Attest bereits am 1. Tag einfordern: Wie ist das im Betrieb umsetzbar?
Haufe Online: Der Arbeitgeber darf ab dem 1. Tag ein ärztliches Attest einfordern. Besteht dieses Recht nur gegenüber bestimmten, einzelnen Mitarbeitern?
Jan-Marcus Rossa: Das Recht des Arbeitgebers, die Vorlage eines ärztlichen Attests bereits ab dem ersten Krankheitstag zu verlangen, ist gesetzlich in § 5 Abs. 1 S. 3 EFZG geregelt. Seit der Entscheidung des BAG vom 14.11.2012 (Az. 5 AZR 886/11) ist nunmehr höchstrichterlich geklärt, dass der Arbeitgeber keinen besonderen Grund benötigt, um von diesem Recht Gebrauch zu machen. Dieses Recht besteht gegenüber jedem Mitarbeiter und ist gerade nicht an besondere Voraussetzungen geknüpft. Insbesondere ist nicht erforderlich, dass gegen den betreffenden Mitarbeiter der Verdacht besteht, er würde eine Erkrankung vortäuschen. Die Entscheidung, ob von einem Arbeitnehmer bereits ab dem ersten Krankheitstag ein Attest verlangt wird, steht nach Ansicht des BAG im „nicht gebundenen“ Ermessen. Das heißt, dass eine Interessenabwägung bei der Ermessensausübung nicht stattzufinden braucht. Allerdings darf die Aufforderung nicht willkürlich sein und auch nicht gegen das Maßregelungsverbot verstoßen, wobei durch die Rechtsprechung noch nicht abschließend konkretisiert wurde, unter welchen Voraussetzungen von einem willkürlichen und damit unzulässigen Ermessensgebrauch auszugehen ist.
Haufe Online: Muss der Arbeitgeber, wenn er aber dem ersten Krankheitstag die Vorlage eines Attests verlangen will, dafür eine allgemeine Regelung im Unternehmen einführen?
Jan-Marcus Rossa: Ein Arbeitgeber, der in einem Einzelfall von einem Arbeitnehmer die Vorlage eines Attestes am ersten Krankheitstag verlangt, benötigt hierfür keine allgemeine betriebliche Regelung. Das Gesetz stellt mit § 5 Abs. 1 S. 3 EFZG eine hinreichende Rechtsgrundlage zur Verfügung. Will der Arbeitgeber nur von Fall zu Fall von diesem Recht Gebrauch machen, muss auch der Betriebsrat mangels kollektiven Bezugs nicht beteiligt werden.
Haufe Online: Darf ein Arbeitgeber allgemeine Regelungen aufstellen, um generell eine Vorlage ärztlicher Atteste ab dem ersten Krankheitstag durchzusetzen? Sind Mitbestimmungsrechte zu beachten und können die Rechte des Arbeitgebers durch eine Betriebsvereinbarung eingeschränkt werden?
Jan-Marcus Rossa: Es bestehen keine Bedenken, wenn ein Arbeitgeber generell in seinem Unternehmen von seinen Arbeitnehmern verlangt, dass sie bereits ab dem ersten Krankheitstag ihre Arbeitsunfähigkeit durch ärztliches Attest nachzuweisen haben. Allerdings ist zu beachten, dass in einem solchen Fall dem Betriebsrat gem. § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG ein Mitbestimmungsrecht zusteht, weil diese generelle Anordnung eine Regelung der betrieblichen Ordnung im Sinne des BetrVG darstellt. Aufgrund seines Mitbestimmungsrechts kann der Betriebsrat auf die nähere Ausgestaltung der Melde- und Nachweispflichten Einfluss nehmen. Durch eine Betriebsvereinbarung kann das Recht des Arbeitgebers, ein Attest ab dem ersten Krankheitstag zu verlangen, daher auch eingeschränkt werden. Insbesondere könnte geregelt werden, dass nur unter bestimmten Voraussetzungen der Arbeitgeber berechtigt sein soll, vor dem dritten Krankheitstag die Vorlage eines ärztlichen Attests zu verlangen, z. B. wenn aufgrund häufiger Kurzerkrankungen vor oder nach einem Wochenende der Verdacht besteht, dass die Erkrankungen nur vorgetäuscht ist.
Haufe Online: Welche Sanktionsmöglichkeiten bestehen, wenn sich ein Arbeitnehmer weigert, ein Attest ab dem 1. Krankheitstag vorzulegen?
Jan-Marcus Rossa: Ist der Arbeitgeber aufgrund einer Betriebsvereinbarung oder in einem Einzelfall berechtigt, die Vorlage des Attests ab dem ersten Krankheitstag zu verlangen, und kommt der Arbeitnehmer einer entsprechenden Aufforderung nicht nach, handelt es sich um eine Verletzung einer Nebenpflicht aus dem Arbeitsverhältnis. Eine solche Nebenpflichtverletzung kann der Arbeitgeber abmahnen und eine erneute Pflichtverletzung kann eine ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen.
Haufe Online: Darf auch der weisungsbefugte Vorgesetzte die Entscheidung treffen, von einem einzelnen Kollegen das Attest ab dem 1. Tag anzufordern?
Jan-Marcus Rossa: Das hängt davon ab, welche Befugnisse dem Vorgesetzten durch den Arbeitgeber übertragen werden. Der disziplinarischer Vorgesetzte, der auch die Befugnis hat, einen Arbeitnehmer abzumahnen und zu entlassen, dürfte im Normalfall berechtigt sein.
Das Interview führte: Renate Fischer, Ass. jur. (Haufe-Lexware)
Interviewpartner: Jan-Marcus Rossa Rechtsanwalt und Partner Esche Schümann Commichau Partnerschaftsgesellschaft
-
Wann Urlaubsverfall und Urlaubsübertragung möglich sind
8.1204
-
Entgeltfortzahlung: Wenn unterschiedliche Krankheiten aufeinander folgen
7.594
-
Zusatzurlaub bei Schwerbehinderung von Arbeitnehmenden
6.202
-
Wann müssen Arbeitgeber eine Abfindung zahlen?
5.8472
-
Zulässige Differenzierung bei Inflationsausgleichsprämie
5.164
-
Urlaubsanspruch richtig berechnen
3.913
-
Wie Arbeitgeber in der Probezeit kündigen können
3.720
-
Nebenjob: Was arbeitsrechtlich erlaubt ist
3.360
-
Arbeitszeitkonto: Diese rechtlichen Vorgaben gelten für Arbeitgeber
3.010
-
Wann Arbeitnehmende einen Anspruch auf Teilzeit haben
2.9991
-
"Ethik kann helfen, die Arbeitskultur in Unternehmen zu stärken"
20.12.2024
-
Betriebsrat wegen Drogenkonsums gekündigt
19.12.2024
-
Gibt es ein Recht auf Nichterreichbarkeit im Urlaub?
18.12.20244
-
Die wichtigsten BAG-Urteile des Jahres 2024
17.12.2024
-
Unwirksame Versetzung aus dem Homeoffice
16.12.2024
-
Überstundenregelung diskriminiert Teilzeitbeschäftigte
12.12.2024
-
Keine Inflationsausgleichsprämie für Langzeiterkrankte
11.12.2024
-
Mindestlohn für Azubis erhöht sich 2025
10.12.20247
-
Urlaubsabgeltung bei fortdauernden Beschäftigungsverboten
09.12.2024
-
Beim Ehrenamt sind arbeitsrechtliche Fehleinschätzungen vorprogrammiert
05.12.2024