Gregor A. Bartle, Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Otto H. Jacobs
Tz. 78
Stand: EL 45 - ET: 11/2021
Die retrograde Methode (retail method) findet vor allem im Einzelhandel Anwendung, wo große Stückzahlen bei gleichzeitig hoher Umschlagshäufigkeit zu bewerten sind (IAS 2.22). Bspw. können Warenhäuser bei der extrem großen Anzahl ihrer Produkte nur sehr schwer den tatsächlichen Beschaffungs- und Verkaufspreis ermitteln, wodurch die Anwendung anderer Kostenbewertungsmethoden erheblich erschwert wird. Für Waren, die ähnliche Gewinnspannen aufweisen, ist daher die Anwendung einer retrograden Methode zulässig und angemessen. Weisen unterschiedliche Warengruppen wesentliche Abweichungen in den Gewinnspannen auf, ist in diesen Fällen jeweils eine gesonderte Betrachtung vorzunehmen.
Bei Ermittlung der Herstellungskosten eines Produktes wird in Höhe einer angemessenen Bruttogewinnspanne ein Abschlag auf den Verkaufspreis des Produktes vorgenommen. Dazu benötigt der Bilanzierende folgende Wertfaktoren:
1) |
Anschaffungskosten und Verkaufswert bei jedem Anschaffungsvorgang; |
2) |
Anschaffungskosten und Verkaufswert der insgesamt zum Verkauf stehenden Waren; |
3) |
Umsatzerlöse der Periode. |
Tz. 79
Stand: EL 45 - ET: 11/2021
Die Berechnung der Anschaffungs- bzw. Herstellungskosten auf Basis der retrograden Methode wird durch folgendes Beispiel illustriert:
Beispiel:
Kaufhaus A zum 31.12.t1
|
Anschaffungskosten |
Verkaufswert |
Anfangsbestand an Vorräten einer Warengruppe zum 01. 01.t1: |
25.000 GE |
40.000 GE |
Anschaffung der Periode: |
75.000 GE |
120.000 GE |
Verkaufsbestand: |
100.000 GE |
160.000 GE |
Umsatzlöse: |
|
75.000 GE |
Endbestand zum 31. 12.t1: |
|
85.000 GE |
Verhältnis Anschaffungskosten zu Verkaufswert:
|
100.000 GE |
|
= |
160.000 GE |
= 62,5 % |
Bruttogewinnspanne = 37,5 % |
|
Bewertung der Vorräte in der Bilanz (62,5 % × 85.000 GE): |
53.125 GE |
Tz. 80
Stand: EL 45 - ET: 11/2021
Die bisher dargestellte Ermittlung der Bruttogewinnspanne unterstellt, dass sich der Verkaufspreis nicht ändert. Werden allerdings auf den ursprünglich festgestellten Verkaufspreis Preisauf- oder -abschläge vorgenommen (aufgrund einer veränderten Marktsituation, eines Schlussverkaufs uÄ), muss dies bei der Entwicklung des Verkaufsbestandes berücksichtigt werden. Dazu bedarf es der Feststellung der Veränderung des Verkaufswertes für den gesamten Bestand, die durch die Preisveränderung verursacht wird. Die Fortschreibung des Verkaufswertes bewirkt, dass die Bruttogewinnspanne zur Ermittlung der Herstellungskosten umso kleiner ist, je mehr Produkte zu einem niedrigeren Preis als dem ursprünglich vorgesehenen Verkaufspreis verkauft werden. Sie wird umso höher, je mehr das Unternehmen in der Lage ist, einen höheren als den ursprünglich festgesetzten Verkaufspreis am Markt durchzusetzen.
Fortführung des Beispiels:
Kaufhaus A zum 31. 12.t1
|
Anschaffungskosten |
Verkaufswert |
Verkaufsbestand (siehe oben): |
100.000 GE |
160.000 GE |
Preiserhöhungen: |
|
5.000 GE |
Preisreduzierung |
|
20.000 GE |
endgültiger Verkaufsbestand: |
|
145.000 GE |
Umsatzlöse: |
|
80.000 GE |
Endbestand zum 31. 12.t1: |
|
65.000 GE |
Verhältnis Anschaffungskosten zu Verkaufswert:
|
100.000 GE |
|
= |
145.000 GE |
= 68,9 % |
Bruttogewinnspanne = 31,1 % |
|
Bewertung der Vorräte in der Bilanz (68,9 % × 65.000 GE): |
44.785 GE |
Tz. 81
Stand: EL 45 - ET: 11/2021
Die retrograde Methode ist sowohl im Handels- als auch im Steuerrecht anerkannt (vgl. Schubert/Gadek, in: Beck Bil.-Komm., § 255 HGB, Tz. 211f.; ADS, 6. Aufl., § 255 HGB, Tz. 114; H 6.8 EStR). Sie wird, übereinstimmend mit den Regelungen des IASB, für Einzelhandelsunternehmen bei angeschafften, schon vom Hersteller mit dem endgültigen Verkaufspreis ausgezeichneten Waren angewendet (zB Textilindustrie, Lebensmittelindustrie). Bei am Bilanzstichtag bereits herabgesetzten Preisen darf nicht von der ursprünglich kalkulierten Handelsspanne, sondern nur von dem verbleibenden Verkaufsaufschlag ausgegangen werden. Um erhebliche Schätzfehler im Vergleich zu den tatsächlichen Anschaffungskosten zu vermeiden, bedarf es einer korrekten Ermittlung der Bruttogewinnspanne für jede einzelne Warengruppe.