Leitsatz (amtlich)
Der erkennende Senat hält nicht mehr an der im Urteil vom 8. Mai 1973 VII R 103/70 (BFHE 109, 402) vertretenen Auffassung fest, daß bei der Abfertigung einer im passiven Veredelungsverkehr eingeführten Ware zum freien Verkehr neben den besonderen Vorschriften des § 52 Abs. 4 ZG auch § 22 Abs. 2 Nr. 1 ZG anwendbar sei und die danach erforderliche Entscheidung, ob der Vertragstarif für den Zollbeteiligten günstiger ist als der Zolltarif, in der Weise zu treffen sei, daß als Grundlage für die in § 52 Abs. 4 ZG geforderte Berechnung des Differenzzolls einmal der Vertragstarif und zum anderen Mal der Zolltarif angewandt werde.
Normenkette
ZG § 22 Abs. 2 Nr. 1 a.F., § 52 Abs. 4
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ließ in der Zeit vom September 1969 bis Ende 1972 bei zwei Zollämtern (ZÄ) im Rahmen eines passiven Veredelungsverkehrs (pVV) aus Jugoslawien eingeführte Unterbekleidung der Tarifst. 60.04 B und der Tarifnr. 61.03 des Gemeinsamen Zolltarifs (GZT) zum freien Verkehr abfertigen. Die ZÄ erhoben den Zoll unter Anwendung des § 52 Abs. 4 Satz 1 des Zollgesetzes (ZG) und der nach dem GZT in Betracht kommenden sog. „vertragsmäßigen” Zollsätze (vgl. die Allgemeinen Vorschriften über die Zollsätze im Teil I, Titel I Buchst. B Nr. 1 GZT). Mit der Klage machte die Klägerin geltend:
Der Bundesfinanzhof (BFH) habe für Einfuhren im pVV durch Urteil vom 8. Mai 1973 VII R 103/70 (BFHE 109, 402) entschieden, daß dann, wenn eine im pVV eingeführte Ware zum freien Verkehr abgefertigt werde, die Entscheidung, ob gemäß § 22 Abs. 2 Nr. 1 ZG der Vertragstarif für den Zollbeteiligten günstiger sei als der Zolltarif, nur getroffen werden könne, indem als Grundlage für die in § 52 Abs. 4 ZG geforderte Berechnung des Differenzzolls einmal der Vertragstarif und zum anderen Male der Zolltarif angewandt werde. Die angefochtenen Bescheide wichen von der vorgenannten Rechtsprechung ab.
Das Finanzgericht (FG) schloß sich dieser Auffassung an und gab der Klage durch Urteil vom 23. März 1976 statt.
Mit der Revision macht der Beklagte und Revisionskläger (das Hauptzollamt – HZA –) geltend:
Vor der Einführung des GZT durch die Verordnung (EWG) Nr. 950/68 (VO Nr. 950/68) des Rates vom 28. Juni 1968 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften – ABlEG – Nr. L 172/1 vom 22. Juli 1968) sei der Zoll gemäß § 21 ZG grundsätzlich nach dem (autonomen) Tarif zu erheben gewesen. Sei für eine bestimmte Ware entsprechend § 22 Abs. 1 ZG ein Vertragszollsatz festgelegt gewesen, so sei unter den in § 22 Abs. 2 ZG bestimmten Voraussetzungen abweichend von dem vorgenannten Grundsatz der Vertragstarif anzuwenden gewesen. Nur wenn der geltende Zolltarif für ein und dieselbe Tarifstelle zwei gültige Zollsätze zur Wahl gestellt habe, habe eine Regelung zum Tragen kommen können, welche die Anwendung des einen oder des anderen Tarifs davon abhängig gemacht habe, ob im Einzelfall bestimmte Merkmale erfüllt gewesen seien.
Die Rechtslage habe sich mit der Einführung des GZT für die darin erfaßten Waren grundlegend geändert. Die Allgemeinen Vorschriften über die Zollsätze Teil I, Titel I Buchst. B Nr. 1 GZT erklärten die im GZT aufgeführten vertragsmäßigen Zollsätze schlechthin zu den Zollsätzen dieses Tarifs und schrieben ihre allgemeine Geltung für die Einfuhren aus allen Drittländern vor. Die im GZT daneben angegebenen autonomen Zollsätze seien nur ausnahmsweise anzuwenden, wenn ein vertragsmäßiger Zollsatz nicht festgesetzt oder wenn dieser höher sei. Die genannten Vorschriften legten somit für jede Tarifstelle fest, welcher von den im GZT in den Spalten 3 und 4 angegebenen Zollsätzen der gültige Zollsatz sei, und bildeten auf diese Weise aus den beiden Zollsatzspalten einen einzigen Tarif.
Für die Anwendung des § 22 Abs. 2 ZG bleibe kein Raum, wenn für jede Tarifstelle nur ein einziger Zollsatz als der geltende Zollsatz festgelegt sei, wie dies bei den vom GZT erfaßten Waren der Fall sei. § 22 Abs. 2 ZG sei insoweit gegenstandslos. Der Gesetzgeber habe auch formalrechtlich die Konsequenzen gezogen, indem er die Begünstigungsbestimmungen des § 22 ZG durch das Sechzehnte Gesetz zur Änderung des Zollgesetzes vom 18. März 1976 (BGBl I 1976, 701) aufgehoben habe.
Bei der Bemessung des Differenzzolls im pVV seien nach allem keine anderen als die in den Bestimmungen B 1 der Allgemeinen Vorschriften im Teil I, Titel I GZT bestimmten Zollsätze anzuwenden, nämlich grundsätzlich die vertragsmäßigen Zollsätze und bei Tarifstellen, für die ein solcher Zollsatz nicht angeführt oder höher als der autonome Zollsatz sei, die autonomen Zollsätze. Infolgedessen komme es abweichend von der nationalen Regelung des § 22 Abs. 2 ZG nicht darauf an, ob die vertragsmäßigen Zollsätze für den Zollbeteiligten im Ergebnis günstiger seien als die autonomen.
Das HZA beantragt, das FG-Urteil aufzuheben.
Die Klägerin beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen und macht geltend:
Auch der GZT lasse neben dem vertragsmäßigen Zollsatz den autonomen bestehen. Da die Problematik des pVV vom GZT nicht geregelt werde könne auf diesem Gebiet ein Widerspruch zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht nicht bestehen, insbesondere die Anwendung des Begünstigungsprinzips des § 22 Abs. 2 ZG nicht ausgeschlossen werden. Die Aufhebung der Begünstigungsbestimmungen des § 22 ZG durch das Sechzehnte Änderungsgesetz vom 18. März 1976 stelle keine formelle, sondern eine materielle Gesetzesänderung dar.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig und begründet; sie führt zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Abweisung der Klage.
Die ZÄ haben bei der Abfertigung der veredelten Waren zum freien Verkehr zutreffend den gemäß § 21 Abs. 1 ZG i.V.m. § 1 Satz 1 Nr. 11 des Zolltarifgesetzes (ZTG) vom 23. Dezember 1960 (BGBl II 1960, 2425) i.d.F. des Änderungsgesetzes vom 20. Dezember 1968 (BGBl II 1968, 1223, Bundeszollblatt 1969 S. 113 – BZBl 1969, 113 –) und der VO Nr. 950/68 zu erhebenden Zoll nach den sog. „vertragsmäßigen” Zollsätzen der Spalte 4 des GZT berechnet, die in Wirklichkeit nicht zwischen der EWG und Drittländern vereinbart, sondern ebenso autonom festgesetzt worden sind wie die autonomen Sätze der Spalte 3 des GZT (vgl. Bail/Schädel/Hutter, Zollgesetz vom 14. Juni 1961, Kommentar, § 21 Rdnr. 23). Die Anwendung des sog. „vertragsmäßigen Zollsatzes der Spalte 4 des GZT war durch die Allgemeinen Vorschriften über die Zollsätze im Teil I, Titel I Buchst. B Nr. 1 GZT gerechtfertigt, wonach anstelle eines in der Spalte 4 des GZT angegebenen sog. „vertragsmäßigen” Zollsatzes der autonome Zollsatz der Spalte 3 nur dann anzuwenden ist, wenn ihm gegenüber der „vertragsmäßige” höher ist. Das war hier aber nicht der Fall.
Da die Waren im Rahmen eines pVV eingeführt und abgefertigt wurden war gemäß § 52 Abs. 4 Satz 1 ZG der Zoll für die veredelten Waren um den Betrag zu mindern, der als Zoll für die unveredelten Waren zu erheben gewesen wäre. Dieser fiktive Zoll war ebenfalls gemäß den Allgemeinen Vorschriften über die Zollsätze im Teil I, Titel I Buchstr. B Nr. 1 GZT nach dem sog. „vertragsmäßigen” Zollsatz der Spalte 4 des GZT zu berechnen, da er nicht höher war als der autonome Zollsatz der Spalte 3 des GZT.
Im vorliegenden Fall hätte allerdings die Berechnung des Differenzzolls nach den Vorschriften des § 52 Abs. 4 ZG für die Klägerin zu einem günstigeren Ergebnis geführt, wenn ihr statt der sog. „vertragsmäßigen” Zollsätze der Spalte 4 des GZT die höheren autonomen Zollsätze der Spalte 3 des GZT zugrunde gelegt worden wären. Das war aber nicht möglich. Zwar kommt in § 22 Abs. 2 Nr. 1 ZG zum Ausdruck, daß die vertragsmäßigen Zollsätze nur dann anzuwenden sind, wenn sie für den Zollbeteiligten günstiger sind als die autonomen. Und allgemein besagt Teil I, Titel I Buchst. B Nr. 1 Abs. 2 GZT (Allgemeine Vorschriften über die Zollsätze), daß der autonome Zollsatz anzuwenden ist, wenn der „vertragsmäßige” Zollsatz höher ist. Demgegenüber hat aber die Spezialregelung in § 52 Abs. 4 ZG den Vorrang. Diese hat den Zweck, den Zollschutz gegenüber der Einfuhr der veredelten Waren durch Anwendung des normalen, d. h. des „vertragsmäßigen” – nach Teil I, Titel I Buchst. B GZT nunmehr auch autonom festgesetzten – Zollsatzes zu sichern, ihn aber um den Zoll zu vermindern, der für die unveredelten Ware zu erheben wäre. Dieser Zweck würde verfälscht, wenn statt dessen der regelmäßig nicht anzuwendende (höhere) autonome Zollsatz der Differenzberechnung zugrunde gelegt wurde (vgl. Schulz/Zimmermann, der Veredelungsverkehr, 29. Erg.-Lfg. 1977, I 37/1, 37/8). Es kann daher dahinstehen, ob die Vorschrift des § 22 Abs. 2 Nr. 1 ZG seit der Einführung des GZT durch die VO Nr. 950/68 wegen der im Teil I, Titel I Buchst. B Nr. 1 GZT erlassenen Allgemeinen Vorschriften über die Zollsätze, „gegenstandslos” bzw. „entbehrlich” geworden war (vgl. Schwarz/Wockenfoth, Zollgesetz, § 22 a. F., Rdnr. 1) oder ob sie durch die nur sog. „vertragsmäßige”, in Wirklichkeit autonome Zollsätze betreffenden Allgemeinen Vorschriften über die Zollgesetze im Teil I, Titel I Buchst. B Nr. 1 GZT unberührt blieb, vom Gesetzgeber im § 1 Satz 2 ZTG zutreffend als fortgeltend behandelt und erst durch das Sechzehnte Änderungsgesetz vom 18. März 1976 materiell aufgehoben wurde.
Für den hier vorliegenden Fall, daß eine im pVV eingeführte Ware zum freien Verkehr abgefertigt wird, hat der Senat im Urteil BFHE 109, 402, 404 die Auffassung vertreten, daß neben den besonderen Vorschriften des § 52 Abs. 4 ZG auch § 22 Abs. 2 Nr. 1 ZG anwendbar sei und die danach erforderliche Entscheidung, ob der Vertragstarif für den Zollbeteiligten günstiger ist als der Zolltarif, in der Weise zu treffen sei, daß als Grundlage für die in § 52 Abs. 4 ZG geforderte Berechnung des Differenzzolls einmal der Vertragstarif und zum anderen Mal der Zolltarif angewandt werde, daß also zwei Differenzzollberechnungen vorzunehmen und ihr Ergebnis zu vergleichen sei. An dieser Auffassung hält der erkennende Senat nicht mehr fest.
Da somit die ZÄ der Berechnung des Differenzzolls nach § 52 Abs. 4 ZG zu Recht nur die sog. „vertragsmäßigen” Zollsätze des GZT zugrunde gelegt haben, war das die Anwendung dieser Zollsätze mißbilligende FG-Urteil aufzuheben. Die Sache ist spruchreif, da allein die Frage umstritten ist, ob jeweils der sog. „vertragsmäßige” Zollsatz der Spalte 4 des GZT oder der autonome Zollsatz der Spalte 3 des GZT anzuwenden war. Da diese Frage i. S. der Auffassung des HZA zu beantworten ist, war die Klage abzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 510548 |
BFHE 1980, 229 |