Entscheidungsstichwort (Thema)
Bei Zahlung von Sozialleistungen für ein behindertes, volljähriges, in den Haushalt der Eltern eingegliedertes sowie in einer Behindertenwerkstatt arbeitendes Kind grundsätzlich keine Abzweigung des Kindergelds aufgrund einer typisierenden Vermutung von finanziellen Unterhaltsleistungen der Eltern mindestens in Höhe des Kindergelds
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine Abzweigung des Kindergelds an den Sozialleistungsträger, der für ein behindertes Kind Sozialleistungen erbringt, setzt voraus, dass der Kindergeldberechtigte zivilrechtlich zum Unterhalt verpflichtet ist, aber keinen Unterhalt leisten will, keinen Unterhalt leisten kann oder als Unterhalt nur einen geringeren Betrag als das Kindergeld zu leisten braucht.
2. Entstehen dem Kindergeldberechtigten Aufwendungen für das volljährige behinderte Kind mindestens in Höhe des Kindergeldes, kommt eine Abzweigung an den Sozialleistungsträger nicht in Betracht. Bei der im Rahmen des Abzweigungsverfahrens zu treffenden Ermessensentscheidung der Familienkasse sind grundsätzlich sämtliche Unterhaltsaufwendungen der Eltern zur Deckung des Lebensbedarfes des Kindes i. S. d. § 1610 Abs. 2 BGB zu berücksichtigen. Als Grenze für eine Berücksichtigung von Aufwendungen des Kindergeldberechtigten im Rahmen der Abzweigungsentscheidung kann daher nicht auf das sozialhilferechtliche Existenzminimum abgestellt werden, sondern auf den an den Lebensverhältnissen der Eltern orientierten unterhaltsrechtlichen Lebensbedarf des Kindes i. S. d. § 1610 Abs. 2 BGB (Anschluss an FG Münster v. 25.03.2011, 12 K 1891/10 Kg).
3. Leben volljährige behinderte Kinder mit den Eltern in einem gemeinsamen Haushalt, sind die kindergeldanspruchsberechtigten Eltern nicht verpflichtet, zur Vermeidung einer Abzweigung ihre Unterhaltsaufwendungen nachzuweisen, etwa indem sie akribisch eine Art „Haushaltsbuch” führen oder in ähnlicher Weise nachvollziehbar glaubhaft machen, ob und ggf. in welcher Höhe sie aus welchen Einkünften Aufwendungen für den Unterhalt der Kinder tätigen. Auch eine unter Umständen rechtlich nicht leicht zutreffende Zuordnung der Aufwendungen nach den einzelnen sozialhilferechtlichen Rubriken ist nicht erforderlich (Anschluss an FG Sachsen-Anhaltl v. 10.11.2011, 5 K 454/11; gegen Urteil des FG Münster v. 25.03.2011, 12 K 1891/10).
4. Sind volljährige behinderte Kinder in den Haushalt ihrer Eltern aufgenommen und sind sie außerstande, sich selbst zu unterhalten, so ist bei nur teilstationärer Unterbringung in einer Werkstatt für behinderte Menschen grundsätzlich ohne Einzelnachweis typisierend davon auszugehen, dass die Eltern finanziell mindestens in Höhe des Kindergeldes mit Unterhaltsleistungen belastet sind. Auch das FG ist nicht gehalten, im Rahmen seiner Verpflichtung zur Aufklärung des Sachverhaltes von Amts wegen zur Beurteilung eines Abzweigungsantrags eine umfassende, aufwändige und tief in die Privatsphäre der Kindergeldberechtigten reichende Ausforschung der im Einzelfall tatsächlich erbrachten finanziellen Unterhaltsleistungen für das volljährige Kind vorzunehmen.
Normenkette
EStG § 74 Abs. 1 Sätze 1, 3-4, § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3, S. 2; BGB §§ 1601-1603, 1610 Abs. 2; SGB XII § 94 Abs. 2, § 82 Abs. 1 S. 2; AO § 5; FGO § 102
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens und die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen hat die Klägerin zu tragen.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Abzweigung des Kindergeldes an den Sozialhilfeträger, der für das Kind der Beigeladenen Sozialleistungen erbringt.
Die Beigeladene ist die leibliche Mutter des am … geborenen Sohnes M. M. ist zu 60 v. H. behindert. Sein Schwerbehindertenausweis enthält keine Merkzeichen (KG-Akte, Bl. 107). M. lebt zusammen mit seinen Eltern in einer Mietwohnung. Die Kaltmiete beträgt rund 283 Euro monatlich.
Tagsüber besucht M. eine Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). Dort arbeitet er werktags außer freitags von 7 Uhr bis 15 Uhr, am Freitag von 7 Uhr bis 14 Uhr. M. ist voll erwerbsgemindert. Die Klägerin zahlte für M. seit Dezember 2009 durchschnittlich eine monatliche Grundsicherung i.H.v. 362,71 Euro (vgl. den in der mündlichen Verhandlung übergebenen Berechnungsbogen in der Gerichtsakte). Die von der Klägerin als Leistung der Eingliederungshilfe ebenfalls zu tragenden Kosten für die Unterbringung in der Werkstatt schwankten zwischen knapp 1.000 Euro und knapp 1.200 Euro pro Monat. Außerdem erhielt M. von Dezember 2009 bis einschließlich Oktober 2010 für seine Tätigkeit in der Werkstatt einen monatlichen Arbeitsverdienst in Höhe von durchschnittlich 138,55 Euro. Die Leistungen wurden auf ein Konto eingezahlt, über das die Beigeladene verfügte. Davon wurden auch die Ausgaben für M. bezahlt, der von diesem Konto nichts abhob. Die Beigeladene war nicht berufstätig. Ihr Ehemann hatte eine volle Stelle als Erzieher.
Am 27.11.2009 beantragte die Klägerin die Abzweigung (KG-Akte Bl. 122). Die Beklagte lehnte den Antrag am 02.12.2009 ab, da durch die...