Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistungen. Leistungen bei Krankheit. stationäre Krankenhausbehandlung. notwendige Beiladung des Krankenhausträgers. örtliche Zuständigkeit. letzter gewöhnlicher Aufenthalt. Gegenstandslosigkeit einer Zuweisungsentscheidung nach Abschluss des Asylverfahrens. Verstoß gegen eine Wohnsitzauflage. Analogleistungen. Erfüllung der Vorbezugszeit. Zeiten des Bezugs eingeschränkter Leistungen nach § 1a AsylbLG. Abgrenzung der Anwendungsbereiche des § 4 und des § 6 AsylbLG. Unerlässlichkeit von Leistungen zur Sicherung der Gesundheit. Maßstäbe für die Überprüfung der medizinischen Notwendigkeit bzw Unerlässlichkeit der Krankenhausbehandlung
Leitsatz (amtlich)
1. Im Streit über den Anspruch der leistungsberechtigten Person gegen den Leistungsträger auf stationäre Gesundheitsleistungen nach §§ 4, 6 AsylbLG ist der Träger des Krankenhauses nicht nach § 75 Abs 2 SGG notwendig beizuladen.
2. Nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens und Erteilung einer ausländerrechtlichen Duldung ist die asylverfahrensrechtliche Zuweisungsentscheidung nicht mehr für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit nach § 10a AsylbLG maßgeblich (Fortführung von LSG Celle-Bremen vom 27.5.2011 - L 8 AY 31/11 B ER = ZFSH/SGB 2011, 601 = juris RdNr 9).
3. Die Auslegung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts iS des § 10a Abs 2 S 1 AsylbLG orientiert sich nach der besonderen Legaldefinition in § 10a Abs 3 S 1 AsylbLG an den tatsächlichen Lebensverhältnissen der leistungsberechtigten Person. Im Einzelfall kann auch ein im Widerspruch zu aufenthalts- oder asylrechtlichen Vorgaben stehender Aufenthalt ein gewöhnlicher iS des § 10a Abs 3 S 1 AsylbLG sein.
4. Für Zeiträume vor dem 1.1.2011 kommt ein Absehen von der Vorbezugszeit als Voraussetzung für die Bewilligung von Analogleistungen nach § 2 Abs 1 AsylbLG im Wege einer telelogischen Reduktion nicht in Betracht (Anschluss an BSG vom 24.6.2021 - B 7 AY 3/20 R = SozR 4-3520 § 2 Nr 7 RdNr 16). Dabei ist der bestandskräftig verfügte Bezug von nach § 1a AsylbLG eingeschränkten Leistungen nicht zu berücksichtigen, selbst wenn die Anspruchseinschränkung materiell rechtswidrig gewesen ist (vgl BSG vom 17.6.2008 - B 8/9b AY 1/07 R = BSGE 101, 49 = SozR 4-3520 § 2 Nr 2, RdNr 24).
5. Die Abgrenzung der Gesundheitsleistungen nach § 4 Abs 1 S 1 AsylbLG und § 6 AsylbLG erfolgt danach, ob die Behandlung Schmerzzustände bzw eine akute, also eine plötzlich auftretende, schnell und heftig verlaufende Erkrankung betrifft (Anwendungsbereich des § 4 Abs 1 S 1 AsylbLG) oder eine chronische, also eine langsam sich entwickelnde oder langsam verlaufende Erkrankung (Anwendungsbereich des § 6 Abs 1 S 1 Alt 2 AsylbLG).
6. Zur Beurteilung, ob Leistungen zur Sicherung der Gesundheit iS des § 6 Abs 1 S 1 Alt 2 AsylbLG unerlässlich sind, sind als Kriterien einzubeziehen zB die Qualität des betroffenen Rechtes (Grundrechtsrelevanz), Ausmaß und Intensität der tatsächlichen Beeinträchtigung im Falle der Leistungsablehnung sowie die voraussichtliche und bisherige Aufenthaltsdauer des Ausländers in Deutschland. Hierbei kommt auch der Entscheidung des BVerfG vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10 ua = BVerfGE 132, 134 = SozR 4-3520 § 3 Nr 2 eine besondere Bedeutung zu (Festhalten an LSG Celle-Bremen vom 1.2.2018 - L 8 AY 16/17 B ER = juris RdNr 27).
7. Ein Anspruch auf Gesundheitsleistungen nach §§ 4, 6 AsylbLG unterliegt nicht den Vorgaben des besonderen Sachleistungssystems der gesetzlichen Krankenversicherung (Anschluss an LSG Hamburg vom 18.6.2014 - L 1 KR 52/14 B ER = Asylmagazin 2014, 359 = juris RdNr 8).
8. Die Leistungen nach §§ 4, 6 AsylbLG müssen allgemeinen Grundsätzen des gesetzlichen Krankenversicherungsrechts entsprechen, insbesondere hat die Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst ausreichend und zweckmäßig zu erfolgen (vgl § 28 Abs 1 S 1 SGB V). Sie muss wirtschaftlich sein und darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten (vgl § 12 Abs 1 SGB V). Eine vollstationäre Krankenhausbehandlung muss insbesondere den speziell geregelten Aspekt des Wirtschaftlichkeitsgebots nach § 39 Abs 1 S 2 SGB V beachten.
9. Ob eine stationäre Krankenhausbehandlung nach §§ 4, 6 AsylbLG aus medizinischen Gründen notwendig ist, hat das Gericht im Streitfall uneingeschränkt zu überprüfen. Es hat dabei von dem im Behandlungszeitpunkt verfügbaren Wissens- und Kenntnisstand des verantwortlichen Krankenhausarztes auszugehen. Eine "Einschätzungsprärogative" kommt dem Krankenhausarzt nicht zu (vgl BSG vom 25.9.2007 - GS 1/06 = BSGE 99, 111 = SozR 4-2500 § 39 Nr 10).
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Beigeladenen werden das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 19. Oktober 2018 und der Bescheid der Stadt Hildesheim vom 28. März 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 10. November 2017 aufgehoben.
Der Beklagte wird verurteilt, der Klinikum Region Hannover GmbH, Hannover, 27.801,40 € für die stationäre Behandlung des Klägers in der E...