Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Hilfsmittelversorgung. mittelbarer Behinderungsausgleich. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Wirtschaftlichkeitsgebot. Übermaßverbot. Rollstuhl-Zuggerät mit einer Geschwindigkeit von mehr als 6 km/h. Ausnahmefall bei medizinischer Erforderlichkeit. Berücksichtigung des Rechtes auf selbstbestimmte Teilhabe. Grenze der Ermöglichung einer angemessenen Erschließung des Wohnungsnahbereichs. Tragung der Mehrkosten durch den Versicherten
Leitsatz (amtlich)
1. Bei Hilfsmitteln, die dem Behinderungsausgleich oder der Vorbeugung vor Behinderung iSd § 33 Abs 1 S 1 Var 2 und 3 SGB V zu dienen bestimmt sind, handelt es sich um Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, weshalb sich die zu beachtenden Entscheidungsfristen und die Sanktionen bei etwaiger Fristüberschreitung für den Leistungsträger aus §§ 14 und 15 SGB IX ergeben, nicht hingegen aus § 13 Abs 3a SGB V.
2. Ein Rollstuhl-Zuggerät, mit dem das Erreichen einer Geschwindigkeit von mehr als 6 km/h durch einen geräteimmanenten Elektromotor unterstützt wird, überschreitet im Rahmen des Ausgleichs einer Geh- bzw Mobilitätsbehinderung (§ 33 Abs 1 S 1 Var 3 SGB V) stets das Maß des Notwendigen iSd § 12 Abs 1 S 1 SGB V (BSG vom 30.11.2017 - B 3 KR 3/16 R = SozR 4-2500 § 139 Nr 9). Wenn besondere medizinische Aspekte im Einzelfall eine Versorgung mit einem solchen Zuggerät gleichwohl erfordern, steht das Übermaßverbot der Versorgung in einem solchen Ausnahmefall jedoch nicht entgegen.
3. Bei der Frage nach der Erforderlichkeit der Versorgung eines Versicherten mit einem die Grenzen des Übermaßverbots überschreitenden Rollstuhl-Zuggerät ist das Recht des behinderten Menschen auf möglichst selbstbestimmte Teilhabe sowie das Versicherten eingeräumte Wunsch- und Wahlrecht zu berücksichtigen; eine Grenze des Leistungsanspruchs bildet aber nach wie vor der Umstand, dass die Krankenkasse im Rahmen des mittelbaren Ausgleichs einer krankheitsbedingten Mobilitätsbeeinträchtigung lediglich verpflichtet ist, dem Versicherten eine angemessene Erschließung seines Wohnungsnahbereichs zu ermöglichen (BSG vom 7.5.2020 - B 3 KR 7/19 R = SozR 4-2500 § 33 Nr 54).
4. Im Falle eines Anspruchs auf Versorgung mit einem Rollstuhl-Zuggerät, das über das Maß des Notwendigen hinausgeht, hat der Versicherte die dadurch entstehenden Mehrkosten nach § 33 Abs 1 S 9 SGB V selbst zu tragen.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Schleswig vom 15. Juni 2017 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor wie folgt gefasst wird:
Der Bescheid der Beklagten vom 15. Mai 2014 in Gestalt des Widerspruchbescheids vom 3. September 2014 wird geändert.
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ein Rollstuhlzuggerät „Speedy Duo 2“ als Sachleistung zu gewähren. Dabei hat die Klägerin die für die Hilfsmittelversorgung über das Maß des Notwendigen hinausgehenden Mehrkosten von 447,02 EUR selbst zu tragen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Auslagen der Klägerin im Vor-, Klage- und Berufungsverfahren zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Versorgung mit einem elektromotorunterstützten mechanischen Rollstuhlzuggerät als Hilfsmittel.
Die 1965 geborene Klägerin ist infolge eines im Jahr 2000 erlittenen Unfalls von der Brustwirbelsäule abwärts querschnittsgelähmt. Eine Innervation der unteren Extremitäten findet nicht statt, weshalb die Klägerin nicht gehfähig und auf die dauerhafte Nutzung eines Rollstuhls angewiesen ist. Zudem liegt eine neurogene Harnblasen- und Mastdarmfunktionsstörung vor. Die Klägerin ist als Mitglied der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Sie ist seit 2002 mit einem manuell zu bedienenden sogenannten Aktivrollstuhl (Greifreifenrollstuhl Speedy-Bike) versorgt. Nach eigener Angabe der Klägerin im Widerspruchsverfahren (der die Beklagte an keiner Stelle widersprochen hat) ist sie insoweit bereits auf Kosten der Beklagten mit einem rein mechanisch anzutreibenden Handzuggerät versorgt. Am 24. Februar 2014 beantragte sie bei der Beklagten die Versorgung mit dem über einen unterstützenden Elektromotor verfügenden mechanischen Rollstuhlzuggerät „Speedy Duo 2“ der Speedy Reha-Technik GmbH. Im Zuge der Antragstellung legte die Klägerin eine entsprechende Verordnung des Facharztes für Allgemeinmedizin J vom 17. Februar 2014, einen Kostenvoranschlag der Herstellerin des Zuggeräts über insgesamt 5.863,73 EUR (der u.a. das „Antriebsrad Duo2 14 km/h komplett“ ausweist) und einen Bericht über die Erprobung des Geräts durch die Klägerin bei.
Die Beklagte holte im Antragsverfahren eine Stellungnahme des behandelnden Arztes der Klägerin, der die Verordnung vom 17. Februar 2014 ausgestellt hatte, ein. Darin erklärt der Allgemeinmediziner J, dass er die Nutzung des verordneten Rollstuhlzuggeräts durch die Klägerin für sinnvoll halte, da dadurch die Spastik gemindert, Muskulatur aufgebaut und die Darmtä...