Entscheidungsstichwort (Thema)
Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Rahmenbeschluss 2002/584/JI. Europäischer Haftbefehl und Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten. Art. 4 Nr. 6. Grund, aus dem die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann. Umsetzung in das nationale Recht. Verhaftete Person, die die Staatsangehörigkeit des Ausstellungsmitgliedstaats besitzt. Zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellter Europäischer Haftbefehl. Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die die Möglichkeit der Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls auf den Fall beschränken, dass es sich bei der gesuchten Person um einen Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats handelt
Beteiligte
Joao Pedro Lopes Da Silva Jorge |
Tenor
Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten und Art. 18 AEUV sind dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat im Rahmen der Umsetzung dieses Art. 4 Nr. 6 zwar die Fälle, in denen sich die nationale vollstreckende Justizbehörde weigern kann, eine in den Anwendungsbereich des genannten Art. 4 Nr. 6 fallende Person zu übergeben, begrenzen kann, jedoch Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die sich in seinem Hoheitsgebiet aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben, nicht ungeachtet ihrer Bindungen zu diesem Staat von diesem Anwendungsbereich automatisch völlig ausschließen darf.
Das vorlegende Gericht muss das nationale Recht unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks des Rahmenbeschlusses 2002/584 auslegen, um dessen volle Wirksamkeit zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von dem Rahmenbeschluss verfolgten Ziel im Einklang steht.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d'appel d'Amiens (Frankreich) mit Entscheidung vom 18. Januar 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Januar 2011, in dem Verfahren über die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen
Joao Pedro Lopes Da Silva Jorge
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts, J.-C. Bonichot und U. Lõhmus sowie der Richter A. Rosas, E. Levits, A. Ó Caoimh (Berichterstatter), L. Bay Larsen, T. von Danwitz, A. Arabadjiev und C. G. Fernlund,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 31. Januar 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Lopes Da Silva Jorge, vertreten durch D. Fayein-Bourgois, avocat,
- der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, J.-S. Pilczer und B. Beaupère-Manokha als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und M. Bulterman als Bevollmächtigte,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar, M. Arciszewski und B. Czech als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Bogensberger und R. Troosters als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. März 2012
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190, S. 1) sowie von Art. 18 AEUV.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in Frankreich, der am 14. September 2006 vom Strafgericht Lissabon (Portugal) gegen Herrn Lopes Da Silva Jorge, einen in Frankreich wohnhaften portugiesischen Staatsangehörigen, zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren wegen Drogenhandels ausgestellt wurde.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
Rz. 3
Art. 2 Abs. 2 des am 21. März 1983 in Straßburg unterzeichneten Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen bestimmt:
„Eine im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei verurteilte Person kann nach diesem Übereinkommen zum Vollzug der gegen sie verhängten Sanktion in das Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei überstellt werden. Zu diesem Zweck kann sie dem Urteils- oder dem Vollstreckungsstaat gegenüber den Wunsch äußern, nach diesem Übereinkommen überstellt zu werden.”
Rz. 4
In Art. 3 dieses Übereinkommens heißt es:
„(1) Eine verurteilte Person kann nach diesem Übereinkommen nur unter den folgenden Voraussetzungen überstellt werden:
a) dass sie Staatsangehörige des Vollstreckungsstaats ist;
…
(4) Je...