Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Freier Dienstleistungsverkehr. Entsendung von Arbeitnehmern. Sanktionen. Verhältnismäßigkeit. Unmittelbare Wirkung. Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts
Normenkette
Richtlinie 2014/67/EU Art. 20
Beteiligte
Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld |
Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld |
Tenor
1. Art. 20 der Richtlinie 2014/67/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt-Informationssystems („IMI-Verordnung”) hat unmittelbare Wirkung, soweit er verlangt, dass die von ihm vorgesehenen Sanktionen verhältnismäßig sind, und kann somit vom Einzelnen vor den nationalen Gerichten gegenüber einem Mitgliedstaat, der diesen Artikel unzulänglich umgesetzt hat, geltend gemacht werden.
2. Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist dahin auszulegen, dass er die nationalen Behörden nur insoweit verpflichtet, eine nationale Regelung, von der ein Teil gegen das in Art. 20 der Richtlinie 2014/67 vorgesehene Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen verstößt, unangewendet zu lassen, als dies erforderlich ist, um die Verhängung verhältnismäßiger Sanktionen zu ermöglichen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesverwaltungsgericht Steiermark (Österreich) mit Entscheidung vom 27. April 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Mai 2020, in dem Verfahren
NE
gegen
Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld,
Beteiligte:
Finanzpolizei Team 91,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten E. Regan, S. Rodin, I. Jarukaitis und N. Jääskinen, der Kammerpräsidentin I. Ziemele, der Richter J.-C. Bonichot, T. von Danwitz, M. Safjan und N. Piçarra, der Richterin L. S. Rossi sowie der Richter A. Kumin und N. Wahl,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und C. Leeb als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und J. Pavliš als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch B.-R. Killmann und L. Malferrari als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 23. September 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 der Richtlinie 2014/67/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt-Informationssystems („IMI-Verordnung”) (ABl. 2014, L 159, S. 11).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen NE und der Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (Österreich) über die Geldstrafe, die von dieser Bezirkshauptmannschaft wegen diverser Verstöße gegen österreichische arbeitsrechtliche Vorschriften über NE verhängt wurde.
Rechtlicher Rahmen
Richtlinie 2014/67
Rz. 3
Art. 20 der Richtlinie 2014/67 sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten legen Vorschriften über die Sanktionen fest, die bei Verstößen gegen die gemäß dieser Richtlinie erlassenen nationalen Bestimmungen anzuwenden sind, und ergreifen alle erforderlichen Maßnahmen, um die Durchführung und Einhaltung dieser Vorschriften zu gewährleisten. Die vorgesehenen Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission die entsprechenden Bestimmungen spätestens bis zum 18. Juni 2016 mit. Sie teilen etwaige spätere Änderungen der Bestimmungen unverzüglich mit.
Österreichisches Recht
Rz. 4
§ 52 Abs. 1 und 2 des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes (BGBl. I, 33/2013) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung bestimmt:
„(1) In jedem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes, mit dem ein Straferkenntnis bestätigt wird, ist auszusprechen, dass der Bestrafte einen Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens zu leisten hat.
(2) Dieser Beitrag ist für das Beschwerdeverfahren mit 20 % der verhängten Strafe, mindestens jedoch mit zehn Euro zu bemessen; bei Freiheitsstrafen ist zur Berechnung der Kosten ein Tag Freiheitsstrafe gleich 100 Euro anzurechnen. …”
Rz. 5
In § 26 Abs. 1 des Lohn- und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetzes (BGBl. I, 44/2016) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: LSD-BG) heißt es:
„Wer als Arbeitgeber oder Überlasser im Sinne des § 19 Abs. 1
1. di...