Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung. Versicherungsvertrag, der auf der Grundlage einer vorsätzlich falschen Angabe über den gewöhnlichen Fahrer geschlossen wurde. Nationale Regelung, nach der einem ‚geschädigten Fahrzeuginsassen‘, der zugleich Versicherungsnehmer ist, die Nichtigkeit des Versicherungsvertrags entgegengehalten werden kann, die sich aus einer von diesem Fahrzeuginsassen zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses gemachten falschen Angabe ergibt. Rechtsmissbrauch. Regress gegen den Versicherungsnehmer, um dessen Haftpflicht wegen seiner vorsätzlich falschen Angabe geltend zu machen
Normenkette
Richtlinie 2009/103/EG Art. 3, 13
Beteiligte
Mutuelle assurance des travailleurs mutualistes (Matmut) |
Fonds de garantie des assurances obligatoires de dommages (FGAO) |
Tenor
Art. 3 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht
sind dahin auszulegen, dass
sie – außer in dem Fall, dass das vorlegende Gericht einen Rechtsmissbrauch feststellt – einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es zum einen erlaubt, dem Insassen eines an einem Verkehrsunfall beteiligten Fahrzeugs, der Geschädigter dieses Verkehrsunfalls und zugleich Versicherungsnehmer ist, die Nichtigkeit des Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungsvertrags entgegenzuhalten, die sich aus von diesem Versicherungsnehmer bei Vertragsschluss gemachten falschen Angaben in Bezug auf den gewöhnlichen Fahrer des betreffenden Fahrzeugs ergibt, und die es zum anderen dem Versicherer in dem Fall, dass diese Nichtigkeit einem solchen „geschädigten Fahrzeuginsassen“ nicht entgegengehalten werden kann, erlaubt, im Wege eines auf vorsätzliches Fehlverhalten des Fahrzeuginsassen bei Vertragsschluss gestützten Regresses gegen den Fahrzeuginsassen eine Erstattung sämtlicher Beträge zu erhalten, die der Versicherer in Erfüllung des Vertrags an ihn gezahlt hat, da eine solche Erstattung dazu führen würde, die Bestimmungen dieser Richtlinie jeglicher praktischen Wirksamkeit zu berauben, indem der Anspruch des Geschädigten auf Entschädigung durch die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung unverhältnismäßig eingeschränkt würde.
Tatbestand
In der Rechtssache C-236/23
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) mit Entscheidung vom 30. März 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 7. April 2023, in dem Verfahren
Mutuelle assurance des travailleurs mutualistes (Matmut)
gegen
TN,
MAAF assurances SA,
Fonds de garantie des assurances obligatoires de dommages (FGAO),
PQ
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev (Berichterstatter), der Richter T. von Danwitz, P. G. Xuereb und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der Mutuelle assurance des travailleurs mutualistes (Matmut), vertreten durch F. Rocheteau, Avocat,
- – des Fonds de garantie des assurances obligatoires de dommages (FGAO), vertreten durch E. Trichet, Avocate,
- – von TN, vertreten durch J.-P. Caston, Avocat,
- – der französischen Regierung, vertreten durch J.-L. Carré, B. Fodda und B. Herbaut als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Goddin und H. Tserepa-Lacombe als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. Juni 2024
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 und 13 der Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. 2009, L 263, S. 11).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Mutuelle assurance des travailleurs mutualistes (Matmut) auf der einen und TN, der MAAF assurances SA, dem Fonds de garantie des assurances obligatoires de dommages (Garantiefonds für obligatorische Schadensversicherungen) (FGAO) sowie PQ auf der anderen Seite über die Frage, ob PQ die Nichtigkeit eines zwischen ihm und der Matmut geschlossenen Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungsvertrags entgegengehalten werden kann.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 1, 2 und 20 der Richtlinie 2009/103 heißt es:
„(1) Die Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht [(ABl. 1972, L 103, S. 1)], die Zweite Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30. Dezember 1983 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften d...