Entscheidungsstichwort (Thema)
sexueller Missbrauch. Behandlungsverhältnis. erforderliche Feststellungen. Missbrauch. Vertrauensposition. Autoritäts- und Vertrauensstellung. Liebesbeziehung
Leitsatz (amtlich)
1. Auch wenn die Patientin oder der Patient mit den sexuellen Handlungen im Rahmen des Behandlungsverhältnisses ausdrücklich einverstanden ist, versteht es sich in den meisten Fällen von selbst, dass ein Arzt, der sexuelle Handlungen an einer Patientin oder einem Patienten im Rahmen eines Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsverhältnisses vornimmt, dieses besondere Verhältnis i. S. v. § 173c StGB missbraucht.An einem Missbrauch fehlt es hingegen ausnahmsweise dann, wenn der Täter im konkreten Fall nicht eine aufgrund des Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses bestehende Autoritäts- oder Vertrauensstellung gegenüber dem Opfer zur Vornahme der sexuellen Handlung ausgenutzt hat.
2. Ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, ist aufgrund einer Gesamtwürdigung der den jeweiligen Einzelfall kennzeichnenden Umstände festzustellen. Wesentlicher Maßstab ist, ob sich Art und Patient/Patientin auf "Augenhöhe" begegnet sind. Hierzu ist ggf. eine umfassende Darstellung der Kommunikation und der Beziehung der Beteiligten innerhalb und außerhalb von Behandlungsvorgängen, der Initiative zu sexuellen Handlungen und der Hintergründe der Fortsetzung der Behandlung nachdem es zu ersten sexuellen Handlungen gekommen ist, erforderlich.
Normenkette
StGB § 174c
Verfahrensgang
AG Essen (Entscheidung vom 28.08.2020) |
LG Essen (Aktenzeichen 67 Ns 157/20) |
Tenor
Das angefochtene Urteil wird mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Essen zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Essen hat den Angeklagten am 28.08.2020 wegen sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt.
Gegen dieses Urteil haben der Angeklagte Rechtsmittel und die Staatsanwaltschaft Berufung zu seinen Ungunsten eingelegt. Im Berufungshauptverhandlungstermin am 10.08.2021 hat die Staatsanwaltschaft die Berufung zurückgenommen. Mit Urteil vom gleichen Tag hat das Landgericht das angefochtene Urteil aufgehoben und den Angeklagten freigesprochen.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des Urteils befand sich die Nebenklägerin seit dem 24.08.2015 wegen eines Frozen-Shoulder-Syndroms sowie diffuser Schmerzen im linken Oberschenkel in der Behandlung des Angeklagten, welcher als Orthopäde und Osteopath eine Privatpraxis betreibt. Die ganzheitlich ausgerichtete Behandlung fand bis zum 18.08.2016 an über 30 Terminen statt und umfasste in etwa zur Hälfte der Behandlungseinheiten auch ein Persönlichkeitscoaching der Nebenklägerin, in welchem auch emotionale (Ehe-)Probleme der Nebenklägerin thematisiert wurden. Nach Besserung der Beschwerden brachte die Nebenklägerin dem Angeklagten immer mehr Zuneigung entgegen und fühlte sich von diesem verstanden und aufgehoben. Es entstand zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin eine sexuelle Anziehung. Die Nebenklägerin kleidete sich zu den Behandlungsterminen in der Regel mit einem einteiligen Sommerkleid, so dass sie dieses für die Behandlung komplett ausziehen musste.
Im Einzelnen kam es zu folgenden Vorfällen:
(1)
Am 06.07.2016 behandelte der Angeklagte die Nebenklägerin, die zu diesem Zweck nur mit Unterwäsche bekleidet mit dem Rücken auf einer Behandlungsliege lag, unter anderem am linken Bein. Als die Nebenklägerin durch die Behandlung Schmerzen empfand, fasste sie zunächst reflexartig mit ihrer Hand an das Gesäß des Angeklagten und beließ diese dann auch über die Zeitspanne hinaus dort, in welcher ein Schmerzreiz auf sie einwirkte. Sodann begann sie den Angeklagten zu streicheln und sah ihn hierbei an. Der Angeklagte fragte die Nebenklägerin hierauf, ob es in Ordnung sei, wenn auch er sie berühre. Die Nebenklägerin bejahte dies und der Angeklagte führte seine Finger unter den Slip der Nebenklägerin und streichelte deren Vagina, was diese zunächst geschehen ließ. Dann schloss sie ihre Beine und sagte sinngemäß, dass der Angeklagte ja verrückt sei und ob er das öfters mache.
(2)
Beim folgenden Behandlungstermin am 12.07.2016 streichelte der Angeklagte erneut die Vagina der Nebenklägerin und führte einen Finger ein, was diese wiederum geschehen ließ. Sodann führte er seinen erigierten Penis zweimal in den Mund der Nebenklägerin, küsste sie und saugte an beiden Brüsten.
(3)
Am 18.08.2016 fand in der Praxis des Angeklagten ein Gespräch über die Ausstellung einer Wiedereingliederungsbescheinigung statt. Zuvor hatte sich die Nebenklägerin bei einem vorangegangenem Gespräch auf einem Parkplatz beim Angeklagten darüber beschwert, dass er sie nicht küsse und sie keine Frau "nur für Zwischendurch" sei.
Nach dem G...