Entscheidungsstichwort (Thema)
Jahressonderzahlung bei Arbeitsunfähigkeit
Normenkette
BGB § 611
Verfahrensgang
LAG Hamm (Urteil vom 22.11.1991; Aktenzeichen 10 Sa 638/91) |
ArbG Hamm (Urteil vom 20.03.1991; Aktenzeichen 3 Ca 1470/90) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 22. November 1991 – 10 Sa 638/91 – aufgehoben.
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Hamm vom 20. März 1991 – 3 Ca 1470/90 – abgeändert.
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 3.383,00 DM brutto nebst 4 % Zinsen auf den sich daraus ergebenden Nettobetrag seit dem 18. Januar 1991 zu zahlen.
Die Beklagten tragen die Kosten des Rechtsstreits.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über eine einmalige betriebliche Leistung für das Jahr 1990.
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der Einheitliche Manteltarifvertrag für die Brauereien im Lande Nordrhein-Westfalen (EMTV) vom 8. Oktober 1990 aufgrund beiderseitiger Tarifgebundenheit Anwendung. § 16 EMTV enthält folgende Regelung:
„§ 16 Einmalige betriebliche Leistungen
1. Jeder Arbeitnehmer, der am 01.12. des jeweiligen Kalenderjahres in einem Arbeitsverhältnis steht und zu diesem Zeitpunkt dem Betrieb 11 Monate angehört, hat Anspruch auf eine jährliche Sonderzahlung in Höhe eines Monatsentgelts.
…
4. Keinen Anspruch haben Arbeitnehmer, die am 01.12. ausgeschieden sind oder zu diesem Zeitpunkt in einem gekündigten Arbeitsverhältnis stehen. Für die Frage, inwieweit von dem Arbeitnehmer zu vertretende Fehlzeiten zu berücksichtigen sind, ferner für Rückzahlungsvorbehalte gelten die vom Bundesarbeitsgericht zur Weihnachtsgratifikation entwickelten Grundsätze.
5. Im Eintrittsjahr hat der Arbeitnehmer, der am Auszahlungstag 6 Monate in einem Arbeitsverhältnis steht, für jeden Kalendermonat, in dem er dem Betrieb angehört hat, Anspruch auf ein Zwölftel der jährlichen Sonderzahlung. Im übrigen gilt Ziff. 4 entsprechend.
6. …
7. Teilzeitbeschäftigte haben Anspruch auf eine anteilige Sonderzahlung, die sich nach dem Verhältnis ihrer normalen vertraglichen Arbeitszeit zur regelmäßigen tariflichen Arbeitszeit bemißt.
8. Anspruchsberechtigte, deren Arbeitsverhältnis bzw. Ausbildungsverhältnis im Kalenderjahr ruht, erhalten keine Leistungen. Ruht das Arbeitsverhältnis im Kalenderjahr teilweise, so erhalten sie eine anteilige Leistung.”
Der Kläger war in der Zeit vom 4. Juni 1964 bis 30. November 1990 bei der Beklagten zu 2) beschäftigt. Seit dem 1. Dezember 1990 besteht ein Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zu 1), die den Betriebsteil, in dem der Kläger bei der Beklagten zu 2) beschäftigt war, von der Beklagten zu 2) zu diesem Zeitpunkt übernahm.
Der Kläger war seit dem 23. August 1989 und während des ganzen Jahres 1990 arbeitsunfähig krank. Er erhielt deshalb die betriebliche Leistung, die die Beklagte zu 2) an die übrigen Arbeitnehmer am 30. November 1990 auszahlte, nicht.
Der Kläger vertritt die Auffassung, ihm stehe die betriebliche Leistung für das Jahr 1990 zu, da er die tariflichen Voraussetzungen erfüllt habe. Maßgebend sei allein die mehr als 11-monatige Betriebszugehörigkeit am 1. Dezember 1990. Auf eine tatsächliche Arbeitsleistung komme es nicht an.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagten zu verurteilen, an ihn als Gesamtschuldner 3.383,– DM brutto nebst 4 % Zinsen auf den sich daraus ergebenden Nettobetrag seit dem 18. Januar 1991 zu zahlen.
Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen. Sie vertreten die Auffassung, mit der tariflichen Leistung solle auch die im Bezugszeitraum geleistete Arbeit abgegolten werden. Deshalb stehe dem Kläger ein Anspruch für das Jahr 1990 nicht zu, da er während des gesamten Bezugs Zeitraums arbeitsunfähig krank gewesen sei.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter. Die Beklagten beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des berufungsgerichtlichen und zur Abänderung des erstinstanzlichen Urteils. Der Klage ist stattzugeben. Dem Kläger steht ein Anspruch auf die einmalige betriebliche Leistung nach § 16 EMTV für das Jahr 1990 zu.
I. Das Landesarbeitsgericht nimmt an, der Kläger habe für das Jahr 1990 keinen Anspruch auf die einmalige betriebliche Leistung, da er im Bezugszeitraum keine Arbeitsleistung erbracht habe. Zwar habe das Arbeitsverhältnis nicht geruht. Die tarifliche Bestimmung des § 16 EMTV sei aber dahin auszulegen, daß ein Anspruch auf die Sonderzahlung nur dann bestehe, wenn der Arbeitnehmer im Bezugszeitraum eine nicht mehr ganz unerhebliche Arbeitsleistung erbracht habe. Daran fehle es.
II. Diesen Ausführungen des Landesarbeitsgerichts kann nicht gefolgt werden. Dem Kläger steht ein Anspruch auf die einmalige betriebliche Leistung für das Jahr 1990 zu. Die tariflichen Bestimmungen erfordern keine tatsächliche Arbeitsleistung im Bezugszeitraum.
1. Der Kläger erfüllt die tariflichen Voraussetzungen für den Anspruch auf die einmalige betriebliche Leistung, da er am 1. Dezember 1990 dem Betrieb länger als 11 Monate angehörte (§ 16 Ziffer 1 EMTV) und das Arbeitsverhältnis zu diesem Zeitpunkt nicht gekündigt war (§ 16 Ziffer 4 EMTV).
2. Das Arbeitsverhältnis hat im Jahre 1990 auch nicht geruht (§ 16 Ziffer 8 EMTV). Das Arbeitsverhältnis eines Arbeitnehmers, der krankheitsbedingt arbeitsunfähig ist und seine arbeitsvertraglichen Pflichten während eines längeren Zeitraums nicht erfüllen kann, ruht nicht. Von einem ruhenden Arbeitsverhältnis kann zwar bereits dann gesprochen werden, wenn nur die wechselseitigen Hauptpflichten (Arbeitsleistung und Vergütung) suspendiert sind und somit der jeweilige Gläubiger von seinem Schuldner die Erbringung der Leistungen nicht verlangen und durchsetzen kann, während die Nebenpflichten weiterbestehen. Bei der durch Krankheit bedingten Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers liegt jedoch keine durchgehende wechselseitige Suspendierung der Hauptpflichten eines Arbeitsverhältnisses vor. Vielmehr handelt es sich um eine Leistungsstörung, die zugunsten des arbeitsunfähigen Arbeitnehmers gesetzlich gelöst worden ist (vgl. Urteil vom 7. September 1989 – 6 AZR 637/88 – AP Nr. 129 zu § 611 BGB Gratifikation).
3. Weder aus dem Tarifwortlaut noch aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang, die bei der Tarifauslegung maßgebend zu berücksichtigen sind (vgl. BAGE 46, 308, 313 = AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung), läßt sich entnehmen, daß über die tariflichen Anspruchsvoraussetzungen hinaus ein Mindestmaß an tatsächlicher Arbeitsleistung im Bezugszeitraum tariflich gefordert wird.
a) Zwar hat die betriebliche Leistung nach § 16 EMTV sog. Mischcharakter, da einerseits mit dem Erfordernis des Bestehens des Arbeitsverhältnisses am 1. Dezember eines Jahres eine Betriebstreue im Bezugszeitraum bis zu diesem Zeitpunkt gefordert wird und andererseits mit dem Erfordernis einer mindestens 11-monatigen ununterbrochenen Betriebs Zugehörigkeit die während dieses Zeitraums im Regelfall erbrachte Arbeitsleistung honoriert werden soll. Jedoch haben die Tarifvertragsparteien nicht bestimmt, daß ein Mindestmaß an tatsächlicher Arbeitsleistung in jedem Falle Voraussetzung für den Anspruch auf die betriebliche Leistung ist.
b) Die Rechtsprechung des Fünften und Sechsten Senats des Bundesarbeitsgerichts (vgl. BAG Urteile vom 29. August 1979 – 5 AZR 763/78 – AP Nr. 102 zu § 611 BGB Gratifikation und – 5 AZR 511/79 – AP Nr. 104 zu § 611 BGB Gratifikation; Urteil vom 7. September 1989 – 6 AZR 637/88 – AP Nr. 129 zu § 611 BGB Gratifikation) – von der auch das Landesarbeitsgericht ausgeht –, wonach im Zweifel bei einer Sonderzahlung mit Mischcharakter im Bezugszeitraum eine nicht unerhebliche tatsächliche Arbeitsleistung als ungeschriebene Anspruchsvoraussetzung zu fordern sei, hat der Senat mit Urteil vom 5. August 1992 (– 10 AZR 88/90 – DB 1992, 2348 = BB 1992, 2218, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts vorgesehen) aufgegeben. Dies beruht darauf, daß zwar mit einer Sonderzahlung mit Mischcharakter die für den Betrieb erbrachte Arbeitsleistung zusätzlich vergütet werden soll, diese Arbeitsleistung aber in der Regel nur abstrakt nach der Dauer des Bestandes des Arbeitsverhältnisses im Bezugszeitraum bestimmt wird. Die Dauer des rechtlichen Bestandes des Arbeitsverhältnisses im Bezugszeitraum entspricht aber regelmäßig nicht dem Umfang der während dieser Zeit für den Betrieb tatsächlich erbrachten Arbeitsleistung. Diese kann wegen einer Vielzahl von Umständen, wie z.B. in Zeiten der Arbeitsunfähigkeit, des Urlaubs, der persönlichen Arbeitsverhinderung aus sonstigen Gründen, einer vereinbarten Freistellung von der Arbeit, während der Mutterschutzfristen, während des Erziehungsurlaubs, während der Einberufung zum Wehrdienst, durch ehrenamtliche Tätigkeiten o.ä. erheblich gemindert sein. Dies ist den Tarifvertragsparteien bekannt. Es bleibt ihnen deshalb überlassen, welche dieser Zeiten sie anspruchsausschließend oder anspruchsmindernd berücksichtigen wollen. Fehlt es an einer solchen Regelung, so kann eine tatsächliche Arbeitsleistung von nicht unerheblichem Umfang bei einer Sonderzahlung mit Mischcharakter als zusätzliche Anspruchsvoraussetzung über die ausdrücklich normierten Anspruchsvoraussetzungen hinaus nicht gefordert werden. Auch ist die Annahme eines allgemeinen Rechtsprinzips, wonach eine Sonderzahlung stets nach dem Maß der jährlichen Arbeitsleistung zu quoteln sei, nicht gerechtfertigt (vgl. BAG Urteil vom 5. August 1992 – 10 AZR 88/90 – a.a.O.).
4. Im übrigen haben die Tarifvertragsparteien vorliegend die Frage des Einflusses von Fehlzeiten des Arbeitnehmers bei der Gewährung der betrieblichen Leistung durchaus berücksichtigt, indem sie in § 16 Ziffer 4 Satz 2 EMTV insoweit auf die vom Bundesarbeitsgericht zur Weihnachtsgratifikation entwickelten Grundsätze verweisen. Dabei kann dahinstehen, ob diese Verweisung hinreichend bestimmt ist, um daraus Rechtsfolgen abzuleiten. Die Verweisung gilt nämlich ausdrücklich nur für die vom Arbeitnehmer zu vertretenden Fehlzeiten. An einer krankheitsbedingten Fehlzeit trifft den Arbeitnehmer jedoch kein Verschulden (§ 276 BGB). Den tariflichen Bestimmungen läßt sich deshalb für krankheitsbedingte Fehlzeiten keine Einschränkung des Anspruchs auf die betriebliche Leistung entnehmen.
5. Demgegenüber greifen die Einwendungen der Beklagten nicht durch. Die Beklagten meinen, daß auch nach der Rechtsprechung des Senats eine Gratifikation mit Mischcharakter der Honorierung geleisteter Arbeit diene und demgemäß im Bezugszeitraum zumindest überhaupt eine tatsächliche Arbeitsleistung erbracht sein müsse. Damit unterscheiden die Beklagten jedoch nicht hinreichend deutlich die Zweckbestimmung einer Gratifikation mit Mischcharakter im Regelfalle von den jeweils in den tariflichen Bestimmungen zum Ausdruck kommenden Anspruchsvoraussetzungen.
Zwar trifft es zu, daß aus tariflichen Bestimmungen, nach denen der Anspruch auf die Gratifikation erst nach einer bestimmten Dauer des Arbeitsverhältnisses entsteht, die Gratifikation im Eintritts- oder Austrittsjahr nur anteilig zu zahlen ist und Teilzeitkräfte eine ihrer geringeren Arbeitszeit entsprechende Gratifikation erhalten, folgt, daß die für den Betrieb im Bezugszeitraum geleistete Arbeit zusätzlich anerkannt und vergütet werden soll. Diese Zweckbestimmung wird im Regelfalle auch erfüllt. Deshalb obliegt es den Tarifvertragsparteien, wenn sie die zu honorierende tatsächliche Arbeitsleistung nicht selbst zur Anspruchsvoraussetzung machen, sondern diese an der Dauer des Arbeitsverhältnisses messen, die Fälle zu regeln, in denen jeweils eine fehlende tatsächliche Arbeitsleistung sich auf den Gratifikationsanspruch auswirken sollen. Fehlt es an einer solchen Regelung oder werden krankheitsbedingte Fehlzeiten von ihr, wie vorliegend, nicht erfaßt, bleibt der Anspruch auf die Gratifikation bestehen (vgl. BAG Urteil vom 10. Februar 1993 – 10 AZR 207/91 – zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen).
6. Die Beklagten haften nach § 613 a Abs. 2 Satz 1 BGB als Gesamtschuldner.
7. Der Zinsanspruch folgt aus §§ 288, 291 BGB.
III. Die Beklagten tragen die Kosten des Rechtsstreits nach § 91 ZPO.
Unterschriften
Matthes, Dr. Freitag, Hauck, Dr. Meyer, Großmann
Fundstellen