Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde: Anforderungen an eine Sachaufklärungsrüge bei einem im Berufungsverfahren nicht rechtskundig vertretenen Beteiligten
Orientierungssatz
Dass ein Beteiligter im Berufungsverfahren nicht rechtskundig vertreten war, setzt die in § 160 Abs. 2 Nr. 3 2. Halbsatz SGG normierten Anforderungen an eine Sachaufklärungsrüge nicht vollständig außer Kraft. Vielmehr muss auch ein früher unvertretener Beteiligter darlegen, einen Beweisantrag zumindest sinngemäß gestellt zu haben, und deshalb angeben, welche Punkte konkret er zuletzt noch für aufklärungsbedürftig gehalten hat und auf welche Beweismittel das Gericht hätte zurückgreifen sollen (vgl. nur BSG, 28. Mai 2013, B 5 R 38/13 B).
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3 Hs. 2
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 21.01.2016; Aktenzeichen L 9 SO 373/14) |
SG Köln (Aktenzeichen S 10 SO 24/14) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Januar 2016 wird als unzulässig verworfen.
Der Antrag des Klägers, ihm für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im bezeichneten Urteil Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt Dr H. beizuordnen, wird abgelehnt.
Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger wendet sich gegen die Entscheidung der Beklagten, ihm Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) nur befristet für ein halbes Jahr (bis 31.8.2013) zu gewähren.
Der 1947 geborene Kläger, ein jüdischer Emigrant aus der Sowjetunion, lebt seit 1992 in Deutschland, seit 2001 ist er deutscher Staatsangehöriger. Die Beklagte bewilligte ihm vom 1.3.2013 an für 6 Monate Grundsicherungsleistungen; sie führte insoweit aus, die Befristung erfolge, weil der Kläger im Rahmen seiner Mitwirkungsverpflichtungen aufgefordert sei, in Russland die ihm zustehenden Renten zu beantragen (Bescheide vom 10.4.2013 und 25.7.2013; Widerspruchsbescheid vom 12.12.2013). Die Klage blieb in beiden Instanzen ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Köln vom 6.8.2014; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Nordrhein-Westfalen vom 21.1.2016).
Gegen die Nichtzulassung der Revision im bezeichneten Urteil wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde und beantragt zugleich die Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung von Rechtsanwalt Dr H. . Er macht eine grundsätzliche Bedeutung der Sache geltend und führt dazu aus, es sei für ihn wegen des in der Sowjetunion vor der Ausreise erlittenen Unrechts unzumutbar, nach Beantragung der russischen Staatsangehörigkeit, die in Russland Voraussetzung für einen Rentenanspruch sei, eine russische Rentenleistung in Anspruch zu nehmen. Dieses Schicksal teile er mit vielen jüdischen Emigranten, sodass diese Frage von grundsätzlicher Bedeutung sei. Daneben macht er geltend, das Urteil des LSG beruhe auf einem Verfahrensmangel (Verstoß gegen § 103 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Das LSG hätte ermitteln müssen, ob die Beantragung eines russischen Passes die Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung durch russische Behörden und die Kontaktaufnahme mit den russischen Behörden eine Retraumatisierung nach sich ziehen könne. Auch die Frage der Verhältnismäßigkeit iS des § 65 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I) habe das LSG nicht ausreichend geprüft.
II
Die Beschwerde ist unzulässig, weil die vom Kläger geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) und des Verfahrensfehlers (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht in der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Weise dargelegt bzw bezeichnet sind. Der Senat konnte deshalb über die Beschwerde ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter nach § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 SGG iVm § 169 Satz 3 SGG entscheiden.
Grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung - ggf sogar des Schrifttums - angeben, welche Rechtsfrage sich stellt, dass diese noch nicht geklärt ist, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfrage aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt (BSG SozR 1500 § 160 Nr 17 und § 160a Nr 7, 11, 13, 31, 39, 59 und 65). Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss der Beschwerdeführer eine konkrete Frage formulieren, deren (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit und (konkrete) Klärungsfähigkeit (= Entscheidungserheblichkeit) sowie deren über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung (Breitenwirkung) darlegen.
Diesen Voraussetzungen genügt der Vortrag des Klägers nicht. Dabei ist wegen des Vertretungszwangs vor dem BSG (§ 73 Abs 4 Satz 1 SGG) allein der Vortrag in der Beschwerdeschrift des bevollmächtigten Rechtsanwalts maßgeblich; der Vortrag des Klägers selbst, auf den der Rechtsanwalt ergänzend Bezug genommen hat, ist unbeachtlich. Er führt als Rechtsfrage im Anwendungsbereich des § 65 SGB I lediglich aus, die Frage der Zumutbarkeit der Mitwirkungshandlung von Emigranten mit dem Status jüdischer Kontingentflüchtlinge stelle sich in einer Vielzahl ähnlich gelagerter Fälle. Ob dies den Anforderungen an die Formulierung einer Rechtsfrage genügt, kann offen bleiben; jedenfalls ist die konkrete Klärungsfähigkeit nicht ausreichend dargelegt. Die Darstellung des Sachverhalts und die Darlegung der verfahrensrechtlichen Fragen, die sich daraus ergeben, fehlen vollständig. Soweit der Kläger ausführt, die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Rahmen des § 65 SGB I sei unzureichend, ist ohnehin nur die Unrichtigkeit der Entscheidung des LSG im Einzelfall behauptet, die die Zulassung der Revision nicht begründen kann.
Die Beschwerde genügt auch den Begründungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG nicht, soweit der Kläger die unzureichende Sachaufklärung durch das LSG (§ 103 SGG) rügt. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zwar zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nach Halbsatz 2 der Regelung aber auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Der Kläger behauptet insoweit nicht, einen entsprechenden Beweisantrag gestellt zu haben; mit seinen Ausführungen, aus seinem Vorbingen habe das LSG schließen können, dass er eine entsprechende Beweiserhebung wünsche, genügt er den Begründungsanforderungen aber nicht. Dass ein Beteiligter im Berufungsverfahren nicht rechtskundig vertreten war, setzt die in § 160 Abs 2 Nr 3 2. Halbsatz SGG normierten Anforderungen an eine Sachaufklärungsrüge nicht vollständig außer Kraft. Vielmehr muss auch ein früher unvertretener Beteiligter darlegen, einen Beweisantrag zumindest sinngemäß gestellt zu haben, und deshalb angeben, welche Punkte konkret er zuletzt noch für aufklärungsbedürftig gehalten hat und auf welche Beweismittel das Gericht hätte zurückgreifen sollen (vgl nur BSG, Beschluss vom 28.5.2013 - B 5 R 38/13 B - RdNr 8 mwN). Vorliegend behauptet der Kläger aber nicht einmal, dass insoweit ein konkreter Vortrag in der mündlichen Verhandlung, in der er anwesend war, oder vorher erfolgt sei.
Da die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 73a Abs 1 SGG, § 114 Abs 1 Zivilprozessordnung ≪ZPO≫) bietet, ist dem Kläger auch keine PKH zu bewilligen. Mit der Ablehnung von PKH entfällt auch die Beiordnung des Rechtsanwalts (§ 121 ZPO).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI10333568 |