Rz. 200
BGH, Urt. v. 10.7.2012 – VI ZR 127/11, VersR 2012, 1133
Zitat
BGB § 823
Für die Verneinung des Zurechnungszusammenhangs zwischen unfallbedingten Verletzungen und Folgeschäden wegen einer Begehrensneurose ist es erforderlich, aber auch ausreichend, dass die Beschwerden entscheidend durch eine neurotische Begehrenshaltung geprägt sind.
1. Der Fall
Rz. 201
Der Kläger erlitt am 14.12.1993 als Fahrer seines Pkw einen Verkehrsunfall, für dessen Schadensfolgen der Beklagte zu 1 als Fahrer und die Beklagte zu 2 als Haftpflichtversicherer des Unfallgegners dem Grunde nach in vollem Umfang haften. Die Beklagte zu 2 zahlte auf die geltend gemachten materiellen Schäden 14.479,55 DM (7.403,28 EUR) und als Schmerzensgeld einen Betrag von 2.000 DM (1.022,58 EUR). Der Kläger begehrte weiteren Schadensersatz und machte geltend, er leide aufgrund der Unfallverletzungen fortwährend an Schmerzen und habe deshalb keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgehen können; ihm seien unfallbedingt unter anderem Verdienstausfall, ein Haushaltsführungsschaden, Kosten für medizinische Behandlung sowie Aufwendungen durch Scheidung seiner Ehe entstanden.
Rz. 202
Das LG hat die auf Zahlung von 579.900,41 EUR, eines Schmerzensgeldes von 50.000 EUR sowie auf Feststellung der Ersatzpflicht hinsichtlich weiterer materieller und immaterieller Schäden gerichtete Klage nach Einholung eines orthopädisch-traumatologischen Gutachtens, eines neurochirurgischen Gutachtens sowie eines psychosomatischen Gutachtens abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das OLG das landgerichtliche Urteil teilweise abgeändert und der Klage unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung in Höhe von 15.230,29 EUR nebst Zinsen stattgegeben (4.230,29 EUR für materielle und 11.000 EUR für immaterielle Schäden). Der Kläger nahm die Klageabweisung hinsichtlich materieller Schäden aus dem Zeitraum bis zum 31.12.1994 in Höhe von 20.825,44 EUR hin. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgte er sein Klagebegehren im Übrigen weiter.
2. Die rechtliche Beurteilung
Rz. 203
Die Revision hatte keinen Erfolg. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, für die ab dem Jahr 1995 eingetretenen Verletzungsfolgen fehle der haftungsrechtliche Zurechnungszusammenhang, war aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
Rz. 204
Zutreffend war der rechtliche Ausgangspunkt des Berufungsgerichts zur Haftung für psychische Folgeschäden.
Der haftungsrechtlich für eine Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung verantwortliche Schädiger hat grundsätzlich auch für Folgewirkungen einzustehen, die auf einer psychischen Prädisposition oder einer neurotischen Fehlverarbeitung beruhen; für die Ersatzpflicht als haftungsausfüllende Folgewirkung des Unfallgeschehens genügt die hinreichende Gewissheit, dass diese Folge ohne den Unfall nicht eingetreten wäre. Die Zurechnung von Folgeschäden scheitert nicht daran, dass sie auf einer konstitutiven Schwäche des Verletzten beruhen. Der Schädiger kann sich nicht darauf berufen, dass der Schaden nur deshalb eingetreten sei oder ein besonderes Ausmaß erlangt habe, weil der Verletzte infolge von Anomalien oder Dispositionen zur Krankheit besonders anfällig gewesen sei. Wer einen gesundheitlich schon geschwächten Menschen verletzt, kann nicht verlangen, so gestellt zu werden, als wäre der Betroffene gesund gewesen.
Rz. 205
Mit Recht hatte das Berufungsgericht die Zurechnung nicht unter dem Gesichtspunkt einer Bagatellverletzung abgelehnt, was die Revision als ihr günstig hinnahm. In Extremfällen scheitert die Zurechnung psychischer Folgeschäden, wenn das schädigende Ereignis ganz geringfügig ist, nicht gerade speziell die Schadensanlage des Verletzten trifft und deshalb die psychische Reaktion im konkreten Fall, weil in einem groben Missverhältnis zu dem Anlass stehend, schlechterdings nicht mehr verständlich ist. Das Halswirbelschleudertrauma und die Prellung anderer Körperteile, die der Kläger nach den Feststellungen des Berufungsgerichts als unmittelbare Unfallfolge erlitten hatte, hatte das Berufungsgericht mit Recht als nicht geringfügig bewertet.
Rz. 206
Zutreffend waren auch die vom Berufungsgericht angenommenen rechtlichen Voraussetzungen für einen Ausschluss der Zurechnung unter dem Gesichtspunkt einer Begehrensneurose. Folgeschäden, die wesentlich durch eine Begehrenshaltung des Geschädigten geprägt sind, können dem Schädiger nicht zugerechnet werden. Nach der Senatsrechtsprechung und einem Teil der Literatur scheidet eine Zurechnung des Folgeschadens für sogenannte Renten- oder Begehrensneurosen aus, die dadurch gekennzeichnet sind, dass der Geschädigte den Unfall in dem neurotischen Streben nach Versorgung und Sicherheit lediglich zum Anlass nimmt, den Schwierigkeiten des Erwerbslebens auszuweichen.
Rz. 207
Der erkennende Senat hält an seiner Rechtsprechung fest. Der Ausschluss der Haftung für Schadensfolgen, die durch eine Begehrenshaltung wesentlich geprägt sind, soll kein vorwerfbares Verhalten des Geschädigten sanktionieren. Vielmehr soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass eine Haftung d...