I. Vorverlagerung der Schuld
Rz. 48
In Fällen, in denen nicht auszuschließen ist, dass der Täter im Tatzeitpunkt schuldunfähig war, musste vor allem bei Alkoholfahrten geprüft werden, ob ihm nicht nach den Grundsätzen der "actio libera in causa" (vorverlagerte Schuld) ein Vorwurf zu machen war. Diese Rechtsfigur ist dadurch gekennzeichnet, dass der Täter zur Tatzeit schuldunfähig ist, gleichwohl aber strafrechtlich haftet, weil er in noch verantwortlichem Zustand das Tatgeschehen in Gang gesetzt hat.
Rz. 49
Siehe zum Problem (die zwischenzeitlich überholte) Rechtsprechung zur Anwendung der "alic" auf eine Trunkenheitsfahrt: OLG Koblenz NZV 1988, 73; BayObLG NZV 1989, 318.
II. Auf Verkehrsdelikte nicht anwendbar
Rz. 50
Die Rechtsfigur der "alic" war früher bereits sehr umstritten und wurde vor allem von der Literatur abgelehnt. Als erstes Gericht hat das LG Münster (zfs 1996, 237) diese Bedenken mit der Begründung geteilt, dass eine Vorverlagerung der Schuld verfassungsrechtliche Grundsätze verletze. Dieser Auffassung hat sich dann auch der BGH (NZV 1996, 500) unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung angeschlossen.
Rz. 51
Auch er ist jetzt der Auffassung, dass – jedenfalls auf verhaltensgebundene Delikte – die Rechtsfigur der "alic" aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht mehr angewandt werden dürfe; die Wortlautgrenze des Art. 103 Abs. 2 GG verbiete, das im Tatbestand des § 316 StGB enthaltene Merkmal des "Führens" auf das der tatbestandsmäßigen Handlung vorgelagerte "Sich-Berauschen" auszudehnen (ihm folgend die obergerichtliche Rechtsprechung, so z.B. OLG Hamm zfs 1998, 313).
Rz. 52
Achtung: Fahrlässige Körperverletzung oder Tötung
Aber auch danach bleibt selbstverständlich eine im Vollrausch begangene fahrlässige Körperverletzung oder Tötung als solche und nicht nur als Rauschtat strafbar, denn hierzu bedarf es gar keines Rückgriffes auf die Rechtsfigur der "alic". Der Fahrlässigkeitsvorwurf knüpft hier nämlich daran an, dass sich der Betroffene betrunken hat, ohne entsprechende Vorkehrungen zu treffen.
Rz. 53
Da es sich insoweit um ein Erfolgsdelikt handelt, bei dem jedes in Bezug auf den tatbestandsmäßigen Erfolg kausale und sorgfaltspflichtwidrige Verhalten des Täters Gegenstand des strafrechtlichen Vorwurfes ist, bestehen – wenn mehrere Handlungen als sorgfaltswidrig in Betracht kommen, wie hier z.B. Trinken in Fahrbereitschaft – keine Bedenken, den Fahrlässigkeitsvorwurf an das zeitlich frühere Verhalten, das dem Täter auch als schuldhafte Tatbegehung vorgeworfen werden kann, anzuknüpfen (BGH NZV 1996, 500).