A. Allgemeines
Rz. 1
Bei der Begutachtung von Verkehrsunfällen stellt sich über die Frage der Unfallrekonstruktion hinaus auch meist die Frage, ob und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen ein Verkehrsunfall vermeidbar gewesen wäre. Am Beispiel des Fußgängerunfalls ist der Gedankengang solcher Vermeidbarkeitsbetrachtungen am besten darzustellen. Die Rechenmethode kann aber auf alle anderen relevanten Unfallsituationen (Vorfahrtsverletzung etc.) übertragen werden.
Rz. 2
Voraussetzung für ihre Durchführbarkeit ist, dass das Fahrzeug eine Bremsspur gezeichnet hat, so dass unter Zugrundelegung einer bestimmten Reaktionszeit der Punkt, an dem der Kraftfahrer tatsächlich reagiert hat (Reaktionspunkt), errechnet werden kann oder eine Reaktionsaufforderung unterstellt werden kann und eine überhöhte bzw. nicht angepasste Fahrgeschwindigkeit nachgewiesen wird.
Rz. 3
Bei den Vermeidbarkeitsberechnungen ist zwischen der so genannten räumlichen Vermeidbarkeit, der zeitlichen Vermeidbarkeit sowie einer verspäteten Reaktion zu unterscheiden.
B. Definitionen
I. Räumliche Vermeidbarkeit
Rz. 4
Eine räumliche Vermeidbarkeit ist dann gegeben, wenn der Kraftfahrer am gleichen Orts- und Zeitpunkt wie bei der Unfallfahrt in gleicher Art und Weise reagiert, aber anstatt der ihm nachgewiesenen (überhöhten) Ausgangsgeschwindigkeit die zulässige Höchstgeschwindigkeit eingehalten hätte (Schaubild: siehe Rdn 6).
II. Zeitliche Vermeidbarkeit
Rz. 5
Ein Unfall ist zeitlich vermeidbar, wenn der Kraftfahrer bei gleichem Reaktionsverhalten wie bei der Unfallfahrt reagiert und dadurch zeitlich später am Kollisionsort angelangt wäre und der Fußgänger diese Zeitspanne hätte nutzen können, um in seiner Bewegung aus der Gefahrenzone herauszugelangen (Schaubild: siehe Rdn 7).
Rz. 6
Rz. 7
III. Verspätete Reaktion
Rz. 8
Sofern ein Verkehrsunfall weder räumlich noch zeitlich vermeidbar war, wird geprüft, ob dem Pkw-Fahrer eine verspätete Reaktion nachgewiesen werden kann. Sollte eine verspätete Reaktion vorliegen, so ist erneut zu erörtern, ob bei einem angepassten Reaktionsverhalten und Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit dann der Unfall räumlich bzw. zeitlich vermeidbar gewesen wäre (Schaubild: siehe Rdn 12).
C. Räumliche Vermeidbarkeit
I. Aufbau des Gutachtens
Rz. 9
Bei den sachverständigenseits durchzuführenden Vermeidbarkeitsbetrachtungen ist zuerst die gefahrene Geschwindigkeit des Pkw und dann der Reaktionspunkt zu ermitteln, an welchem der Kraftfahrer auf die Gefahrensituation tatsächlich reagiert hat. Ausgehend von diesem Punkt wird dann berechnet, welche Wegstrecke der Kraftfahrer benötigt hätte, um bei den gleichen Reaktions- und Bremsparametern wie bei der Unfallfahrt sein Fahrzeug bis zum Stillstand zu verzögern (Anhalteweg).
Rz. 10
Sofern diese Wegstrecke kürzer ist als diejenige zwischen dem Reaktionsortspunkt und dem Kollisionsort, wäre das Fahrzeug noch vor dem Kollisionsort zum Stillstand gekommen; der Unfall war in diesem Fall bereits räumlich vermeidbar (Schaubild: siehe Rdn 6).
II. Tipp: Kürzestmögliche Reaktionszeit
Rz. 11
Kann dem beschuldigten Kraftfahrer eine überhöhte Ausgangsgeschwindigkeit nachgewiesen werden, so wirkt sich eine möglichst kurze Reaktionszeit positiv für ihn aus, da der Reaktionspunkt bei einer kurzen Reaktionszeit näher am Kollisionsort liegt als bei einer langen. Da der Vergleich für die Betrachtung der Variante "Einhaltung der verkehrsgerechten Geschwindigkeit" von dem so gefundenen Reaktionspunkt aus berechnet werden muss, ist dann die Wahrscheinlichkeit größer, dass der Beschuldigte auch bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit den Kollisionsort überfahren hätte und der Unfall damit zumindest räumlich nicht vermeidbar war.
Rz. 12
Rz. 13
Rz. 14
D. Zeitliche Vermeidbarkeit
Rz. 15
Sofern der Anhalteweg länger ist als die Wegstrecke zwischen dem Reaktionsort und dem Kollisionsort, steht fest, dass das Fahrzeug auch bei Einhaltung der höchstzulässigen Geschwindigkeit nicht mehr vor dem Kollisionsort hätte zum Stehen gebracht werden können; der Unfall war damit räumlich nicht vermeidbar.
Achtung: Fahrunsicherer Fahrer
Der BGH normiert für fahrunsichere Kraftfahrer eigene Verhaltensregeln (BGH DAR 2013, 88). Danach muss er die Geschwindigkeit seiner herabgesetzten Reaktionsfähigkeit anpassen, anderenfalls kann er selbst dann verurteilt werden, wenn ein nüchterner Kraftfahrer bei gleich hoher und zulässiger Geschwindigkeit den Unfall nicht hätte verhindern können (zu Einzelheiten siehe § 46 Rdn 15, § 47 Rdn 12).
Rz. 16
Dann ist aber zu fragen, ob der Unfall nicht zeitlich vermeidbar war. Die festgestellte Geschwindigkeitsüberschreitung kann nämlich auch dann unfallkausal gewesen sein, wenn die weitere Berechnung ergibt, dass das Kraftfahrzeug bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit den Kollisionsort zwar ebenfalls überfahren, ihn aber zeitlich so viel später erreicht hätte, dass der Fußgänger in dieser Zeitspanne (Zeitgewinn) sich aus dem Gefahrenbereich hätte entfernen können (zeitliche Vermeidbarkeit).
Rz. 17
Kann dies bejaht werden, war der Unfall zeitlich vermeidbar und der Kraftfahrer ist schuldig (oder mitschuldig) zu sprechen, da die Tötung bzw. Verletzung kausal auf die Geschwindigkeitsüberschreitung zurückzufüh...