Dr. iur. Christian Saueressig
a) Vernehmung des Zeugen
Rz. 136
Die Art und Weise der Anhörung von Zeugen wird durch die Bestimmungen der Zivilprozessordnung über den Zeugenbeweis (§§ 373–401 ZPO) zwingend vorgegeben. Eine informatorische Anhörung sehen diese Vorschriften nicht vor. Sie kann nur insoweit erfolgen, als sich der Richter die Überzeugung vom Vorhandensein prozessrechtlich bedeutsamer Tatsachen von vornherein im Wege des Freibeweises verschaffen will, z.B. Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Rechtsmittels.
Gemäß § 396 Abs. 1 ZPO ist dem Zeugen – nach Ermahnung/Belehrung nach § 395 ZPO und der Vernehmung zur Person (§ 395 Abs. 2 ZPO) – zunächst Gelegenheit zu geben, im Zusammenhang zur Sache auszusagen. Gegen diese eindeutige gesetzliche Regelung wird vom Gericht häufig verstoßen, indem der Zeuge von vornherein Satz für Satz befragt wird, und der Richter seine Antworten unmittelbar zu Protokoll diktiert. Das erleichtert dem nicht wahrheitsliebenden Zeugen die Falschaussage, zumal er an der Fragestellung häufig erkennen kann, welche Antwort der von ihm favorisierten Partei günstig ist. Weiter erschwert sich das Gericht die Aufgabe Kriterien zur Glaubwürdigkeitsprüfung zu erlangen, wenn es den Zeugen in seiner freien Erzählung unterbricht.
Der Grund für diese gesetzwidrige Art der Vernehmung liegt zumeist darin, dass der Richter nicht (mehr) über die nötige Konzentration verfügt, den Inhalt einer längeren Aussage zusammenfassend zu Protokoll zu diktieren. Ist das nicht der Grund, sollte der Anwalt das Gericht an die Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Form erinnern.
Diktiert der Richter das Beweisergebnis zu Protokoll, hat er vielfach schon das später abzusetzende Urteil vor Augen. Dabei besteht die – zumeist unbewusste – Neigung, Ungenauigkeiten und Widersprüche der Zeugenaussage bei der Protokollierung zu glätten. Dem sollte der Anwalt der davon betroffenen Partei entschieden entgegentreten. Und zwar nach Möglichkeit, bevor die Aussage im Protokoll festgehalten ist. Den unausbleiblichen Unwillen des Richters sollte er in Kauf nehmen. Eine entschlossene Wahrnehmung der Mandanteninteressen nötigt letztlich auch dem Richter mehr Respekt ab, als ein unterwürfiges Schielen auf seine Gunst. Nach der Protokollierung der freien Erzählung des Zeugen folgte gegebenenfalls die ergänzende Befragung des Zeugen durch das Gericht (§ 396 Abs. 2 ZPO).
b) Urkundenbeweisliche Verwertung von Zeugenaussagen
Rz. 137
Eine Partei kann den ihr obliegenden Beweis auch durch die Aussage eines Zeugen führen, die dieser zu Protokoll eines Strafverfahrens gemacht hat; der BGH sieht darin eine urkundenbeweisliche Verwertung und keinen Verstoß gegen das Unmittelbarkeitsprinzip. Der Beweisgegner kann die urkundenbeweisliche Verwertung nicht dadurch verhindern, dass er ihr widerspricht. Das Gericht darf also ohne eigene Vernehmung des Zeugen seine Entscheidung, auf dessen Aussage bei der polizeilichen Vernehmung stützen. Will der Beweisgegner das verhindern, kann er eine nochmalige Vernehmung des Zeugen allerdings dadurch erzwingen, dass er sich seinerseits gegenbeweislich auf Vernehmung eben dieses Zeugen beruft.
BGH BeckRS 2011, 29058:
Zitat
Niederschriften über Zeugenvernehmungen aus anderen Verfahren können im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden, wenn dies von der beweispflichtigen Partei beantragt wird. Das ist auch dann zulässig, wenn die Gegenpartei der Verwertung widerspricht; denn die Führung des Urkundenbeweises bedarf grundsätzlich nicht des Einverständnisses der Gegenpartei. Wenn eine Partei zum Zwecke des unmittelbaren Beweises jedoch die Vernehmung eines Zeugen beantragt, ist die urkundenbeweisliche Verwertung seiner früheren Aussage anstelle der beantragten Vernehmung unzulässig; dann ist dem Antrag, soweit er erheblich ist, durch Vernehmung des Zeugen zu entsprechen.
Rz. 138
Beispiel
In einer Verkehrssache beruft sich der Kläger zum Beweis für seine Behauptung, beim Linksabbiegen das Blinklicht gesetzt zu haben, auf die Aussage zweier Zeugen, die das in der polizeilichen Vernehmung so zu Protokoll gegeben haben; er beantragt die Beiziehung der polizeilichen Akte.
Will nun der Beklagte trotz dieser Urkunden dem Vorbringen des Klägers entgegentreten, hat er allenfalls dann eine Chance, wenn es ihm gelingt, eine (nochmalige) Vernehmung dieser Zeugen durch das Gericht zu erreichen; deshalb muss er ihre Vernehmung zum Beweis für seine Behauptung beantragen, der Kläger habe beim Abbiegen nicht das Blinklicht gesetzt.
Das Gericht kann die Beweiserhebung nicht mehr der Begründung ablehnen, es seien keine Anhaltspunkte dafür vorgetragen, dass die Zeugen etwas anderes bekunden würden als in ihrer polizeilichen Vernehmung; eine vorwegnehmende Beweiswürdigung ist generell unzulässig.
Hat...