Sebastian Herrler, Susanne Herrler
Rz. 4
Beschränkende nationale Maßnahmen des Zuzugs- bzw. (unter den vorgenannten Voraussetzungen, Rdn 3) des Wegzugsstaates sind am Vier-Kriterien-Test zu messen. Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit durch nationale Maßnahmen wie insbesondere Zuzugsbeschränkungen sind danach nur gerechtfertigt, wenn sie (1) in nicht diskriminierender Weise angewendet werden, (2) aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses geboten sind, (3) zur Erreichung des verfolgten Zwecks geeignet sind und (4) nicht über das hierfür Erforderliche hinausgehen. Bei der Warenverkehrsfreiheit differenziert der EuGH indes zwischen "produktbezogenen" und "vertriebsbezogenen" (bloße "Verkaufsmodalitäten") Regelungen. Für Letztere gilt kein allgemeines Beschränkungsverbot, sondern lediglich das Diskriminierungsverbot. In der Kornhaas-Entscheidung vom 10.12.2015 hat der EuGH die Anwendung des Zahlungsverbots nach Insolvenzreife gem. § 64 Satz 1 GmbHG auf englische Limiteds mit Verwaltungssitz in Deutschland nicht als Beschränkung der Niederlassungsfreiheit angesehen, da dieses erst nach Gewährung des Marktzugangs Anwendung finde und nicht den Marktzugang als solchen erschwere. In der Literatur wird vielfach gefordert, dem Beschränkungsverbot nur solche nationalen Regelungen zu unterwerfen, die spezifisch den Marktzugang betreffen bzw. erschweren. Im Detail ist hier allerdings noch manches umstritten. Pauschal alle lediglich die Ausübung der Geschäftstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat betreffenden Vorschriften allein am Diskriminierungsverbot zu messen ist ggf. zu undifferenziert. Denn derartige Regelungen können für Gesellschaften, die auch in ihrem Heimatmitgliedstaat eine echte Geschäftstätigkeit entfalten, aufgrund der möglichen Doppelbelastung eine beschränkende Wirkung haben. Jedenfalls nicht als Beschränkung anzusehen sind solche nationalen "Ausübungsregelungen", deren Auswirkungen auf die Grundfreiheitsausübung "zu ungewiss und zu mittelbar" sind.
Rz. 5
Wegzugsfälle hat der EuGH zunächst unter Verweis auf die "Geschöpftheorie" als nicht vom Anwendungsbereich der Art. 49 und 54 AEUV erfasst angesehen. Mittlerweile ist aber geklärt, dass auch derartige Vorgänge in den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten fallen (vgl. Rdn 3). Eine generelle mitgliedstaatliche Anordnung, wonach die Hinausumwandlung bzw. der Versuch einer solchen zur Auflösung und Abwicklung der Gesellschaft führt, ist jedenfalls nicht erforderlich und verstößt daher gegen die grundfreiheitlichen Gewährleistungen. Noch nicht abschließend geklärt ist allerdings, inwieweit Beschränkungen des Wegzugs zum Schutz der Gläubiger, Arbeitnehmer und Minderheitsgesellschafter durch den Gründungsstaat gerechtfertigt sind. Der strenge Maßstab für Zuzugsbeschränkungen passt für Beschränkungen von Hinausumwandlungen nicht uneingeschränkt. Eine Orientierungshilfe für zulässige Beschränkungen liefern insbesondere §§ 122h, 122i, 122j UmwG sowie §§ 12, 13 SEAG (SE-Ausführungsgesetz). Auch beim grenzüberschreitenden Formwechsel darf der Zuzugsstaat nicht frei darüber entscheiden, ob er die formwechselwillige Gesellschaft aufnimmt. Der Zuzugsstaat muss den grenzüberschreitenden Formwechsel jedoch zulassen, wenn seine Rechtsordnung einen innerstaatlichen Formwechsel gestattet. Es steht dem Zuzugsstaat indes frei, die Einhaltung der für die Zielrechtsform erforderlichen Gründungsformalitäten zu verlangen. Sofern der Zuzugsstaat für seine Gesellschaften fordert, dass sich Satzungs- und Verwaltungssitz bzw. eine Niederlassung ("echte Geschäftstätigkeit") in seinem Territorium befinden, kann er einer Gesellschaft aus einem Mitgliedstaat den Zuzug versagen, wenn diese isoliert ihren Satzungssitz in diesen Staat verlegen möchte.