1. Grenze der Testierfreiheit
Rz. 356
Verstößt der Inhalt einer Verfügung von Todes wegen gegen die guten Sitten, so ist sie nichtig (§ 138 Abs. 1 BGB). Die dem Erblasser gewährte Testierfreiheit findet hier ihre Grenze. Grundsätzlich ist der Erblasser befugt, ohne nähere Gründe von der gesetzlichen Erbfolge abzuweichen; das Pflichtteilsrecht sichert die nahen Angehörigen. Allerdings kommt in den gesetzlichen Erbrechten des Ehegatten und der Kinder des Erblassers eine grundlegende rechtliche und sittliche Wertung zum Ausdruck, die die Testierfreiheit begrenzen kann.
Die Rechtsprechung hat am Beispiel des sog. Geliebtentestaments (verheirateter Mann setzt unter Ausschluss seiner Ehefrau und seiner Kinder seine Geliebte zur Alleinerbin ein) Kriterien für die Sittenwidrigkeit eines Testaments erarbeitet.
2. Bewertung aller Umstände
Rz. 357
Entscheidend für die Bewertung der Verfügung von Todes wegen ist deren Gesamtcharakter, für den sowohl Inhalt und Wirkungen als auch der Beweggrund des Erblassers und der verfolgte Zweck maßgebend sind. Nach der Rechtsprechung des BGH kann die Zuwendung schon dann gültig sein, wenn neben einer erotischen Beziehung zu einem Partner auch andere achtenswerte Beweggründe maßgebend waren, wenn die Verfügung nicht allein die Belohnung für den intimen Umgang oder die Bestärkung der Fortsetzung der Beziehung bezweckte (Beispiel: Unterstützung im Betrieb, Pflege im Krankheitsfall). Es kommt entscheidend auf die Auswirkungen der Verfügung für den Bedachten einerseits und für die Zurückgesetzten andererseits an.
Rz. 358
Seit der Entscheidung des BGH vom 31.3.1970 ist in der Rechtsprechung geklärt, dass eine Verfügung von Todes wegen nicht schon deshalb sittenwidrig ist, weil zwischen dem Erblasser und der Bedachten ein außereheliches Liebesverhältnis bestanden hat, gleichgültig, ob einer der beiden oder beide verheiratet waren; vielmehr greift § 138 Abs. 1 BGB nur ein, wenn die Zuwendung ausschließlich den Zweck hatte, geschlechtliche Hingabe zu belohnen oder zu fördern. Offen ist, ob sich dieses Ergebnis heute wegen der gesetzlichen Wertung des § 1 ProstG – wonach eine rechtswirksame Forderung begründet wird, wenn sexuelle Handlungen gegen ein vorher vereinbartes Entgelt vorgenommen werden – überhaupt noch aufrechterhalten lässt.
Rz. 359
Bezüglich des zweiten Aspektes des "Geliebtentestaments", der sittenwidrigen Zurücksetzung von Angehörigen, gilt, dass das Erbrecht des BGB vom Grundsatz der Testierfreiheit beherrscht ist, der seinerseits unter dem Schutz der Erbrechtsgarantie des Grundgesetzes steht. In der Freiheit, über sein Vermögen letztwillig zu verfügen, wird ein Erblasser regelmäßig weder durch moralische Pflichten gegenüber Personen, die ihm nahestanden und für ihn sorgten, noch durch das der gesetzlichen Erbfolge zugrunde liegende sittliche Prinzip beschränkt. Der Wille des Erblassers geht grundsätzlich vor.
Rz. 360
Sittenwidrigkeit und damit Nichtigkeit einer letztwilligen Verfügung kann daher nur in besonders hervorstechenden, d.h. schwerwiegenden, Ausnahmefällen angenommen werden.
3. Beweislast
Rz. 361
Die Beweislast für die Voraussetzungen der Sittenwidrigkeit trifft denjenigen, der sich darauf beruft.
4. Zeitpunkt der Sittenwidrigkeit
Rz. 362
Als maßgebenden Zeitpunkt für die Sittenwidrigkeit hat der BGH bei Änderung der Verhältnisse zwischen der Errichtung der Verfügung und dem Erbfall den Zeitpunkt der Testamentserrichtung angesehen. Die kategorische Anwendung eines solchen Grundsatzes erscheint fraglich. Sollte beispielsweise der Erblasser, der im Zeitpunkt der Testamentserrichtung noch verheiratet war und seine nichteheliche Lebensgefährtin zur Alleinerbin eingesetzt hat, im Zeitpunkt des Erbfalls von seiner damaligen Ehefrau geschieden und mit der seinerzeitigen Lebensgefährtin verheiratet sein, so ist es kaum nachvollziehbar, das Testament dem Unwerturteil des § 138 BGB zu unterstellen.
5. Sittenwidrigkeit eines Geliebtentestaments: Berücksichtigung von Umständen nach Testamentserrichtung bei Beurteilung der Sittenwidrigkeit
Rz. 363
Ein Geliebtentestament ist auch dann regelmäßig nicht als sittenwidrig gem. § 138 Abs. 1 BGB anzusehen, wenn es zu Miteigentum der Geliebten und der Ehefrau an dem von der Ehefrau bewohnten Haus führt.
6. Sittenwidrigkeit einer Wiederverheiratungsklausel
Rz. 364
Eine Wiederverheiratungsklausel, die dem überlebenden Ehegatten...