StGB § 56; StPO §§ 117, 118, 140, 141, 145, 244, 350, 408, 411, 418, 420
Leitsatz
Dem nach § 408 b StPO bestellten Verteidiger stehen, auch wenn er erstmals nach Erlass des Strafbefehls tätig wird und keinen Einspruch einlegt, die vollen Gebührenansprüche eines Verteidigers und nicht nur eine Einzeltätigkeitsgebühr zu.
OLG Oldenburg, Beschl. v. 29.7.2010–1 Ws 344/10
Sachverhalt
Das AG hatte gegen den Angeklagten einen Strafbefehl wegen gefährlicher Körperverletzung erlassen und eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten verhängt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Am gleichen Tag bestellte das AG die Beschwerdeführerin gem. § 408b StPO für das Strafbefehlsverfahren zur Pflichtverteidigerin des Angeklagten.
Mit der Zustellung des Strafbefehls und des Beschlusses über die Verteidigerbestellung wurden der Verteidigerin die Akten zur Einsicht übersandt. Ein Einspruch gegen den Strafbefehl wurde nicht eingelegt, so dass er rechtskräftig wurde.
Die Beschwerdeführerin beantragte daraufhin u.a. die Festsetzung einer Grundgebühr nach Nr. 4100 VV und einer Verfahrensgebühr für den ersten Rechtszug vor dem AG nach Nr. 4106 VV.
Abweichend hiervon setzte das AG lediglich eine Verfahrensgebühr nach Nr. 4302 RVG nebst Auslagenpauschale fest mit der Begründung, die Tätigkeit der nach § 408b StPO bestellten Pflichtverteidigerin sei als Einzeltätigkeit abzurechnen.
Die dagegen gerichtete Erinnerung der Pflichtverteidigerin wies das AG – bei gleichzeitiger Zulassung der Beschwerde – zurück.
Das LG verwarf die gegen die Entscheidung des AG von der Pflichtverteidigerin eingelegte Beschwerde; ließ jedoch die weitere Beschwerde gegen die landgerichtliche Entscheidung zu.
Die hierauf eingelegte weitere Beschwerde, der das LG nicht abgeholfen hat, hatte in der Sache Erfolg.
Aus den Gründen
Das LG hat die Tätigkeit der nach § 408b StPO bestellten Verteidigerin zu Unrecht als Einzeltätigkeit gewertet.
Es kann vorliegend dahin stehen, wie weit die Bestellung des Pflichtverteidigers nach § 408b StPO zeitlich reicht; vgl. zum Meinungsstand OLG Köln NStZ-RR 2010, 30 f. m. w. Nachw. Anders als etwa in § 117 Abs. 4 S. 1 StPO "für die Dauer der Untersuchungshaft", § 118a Abs. 2 S. 3 StPO "für die mündliche Verhandlung" im Haftprüfungsverfahren, § 350 Abs. 3 S. 1 StPO "für die Hauptverhandlung" in der Revisionsinstanz, § 418 Abs. 4 StPO "für das beschleunigte Verfahren" – nimmt § 408b StPO nicht ausdrücklich eine Beschränkung der Reichweite der Verteidigerbestellung vor.
Selbst wenn man der Meinung folgt, dass die Pflichtverteidigerbestellung nach § 408b StPO lediglich für das Strafbefehlsverfahren, nicht aber darüber hinaus für das weitere Verfahren nach Einspruch gegen einen Strafbefehl gilt, vgl. dazu OLG Düsseldorf NStZ 2002, 390; Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl., § 408b Rn 6 m. w. Nachw., so folgt daraus nicht, dass die Tätigkeit des nach § 408b StPO bestellten Pflichtverteidigers vergütungsrechtlich lediglich als Einzeltätigkeit nach Nr. 4302 VV zu beurteilen wäre. Nach der Vorbem. 4.3 Abs. 1 VV entstehen die Gebühren Nrn. 4300 bis 4304 VV für einzelne Tätigkeiten, ohne dass dem Rechtsanwalt sonst die Verteidigung oder Vertretung übertragen ist.
Der nach § 408b StPO bestellte Pflichtverteidiger ist indessen "Vollverteidiger". Dem nach § 408b StPO bestellten Verteidiger obliegt die Verteidigung des Angeklagten, der vor der Verhängung der Freiheitsstrafe nicht persönlich durch einen Richter angehört wird und sich häufig der Gefahr des Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56f StGB mit der Folge, dass er die Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, nicht bewusst ist, umfassend. Die Verteidigung beschränkt sich nicht darauf, nach § 145a Abs. 1 StPO den Strafbefehl für den Angeklagten in Empfang zu nehmen und hiergegen nach dessen Willen oder vorsorglich gegebenenfalls Einspruch einzulegen. Vielmehr gehört es zu den Aufgaben des bestellten Verteidigers, dem Angeklagten fachkundige Beratung zukommen zu lassen und dessen verfahrensmäßige Rechte im Strafbefehlsverfahren wahrzunehmen. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, ist der Pflichtverteidiger gehalten, Einsicht in die Ermittlungsakten zu nehmen und als fachkundiger Berater mit dem Angeklagten zu erörtern, ob es zweckmäßig erscheint, Einspruch gegen den Strafbefehl einzulegen.
Auch aus dem Gesetzeswortlaut kann nicht geschlossen werden, die Tätigkeit des Pflichtverteidigers unterliege bis zur Einspruchseinlegung irgendwelchen Beschränkungen. Dies zeigt bereits der Hinweis in § 408 b S. 2 StPO auf die entsprechende Anwendbarkeit des § 141 Abs. 3 StPO. Dort ist geregelt, dass ein Verteidiger auch schon während des Vorverfahrens bestellt werden kann. Schon hieraus allein ergibt sich, dass der Verteidiger während der gesamten Dauer seiner Bestellung unbeschränkte Verteidigerbefugnisse hat, vgl. dazu im Einzelnen: LG Bayreuth StV 1998, 614.
Soweit das LG eine inhaltliche Einschränkung der Verteidigerfunktion vorliegend mit der Begründung für gerechtfertigt hält, dass ein Angeschuldigter, gegen den zunächst lediglich ein Strafbefehl...