Leitsatz
Nimmt die Staatsanwaltschaft ihre Anklage zurück, versetzt sie damit das Verfahren in den Stand des Ermittlungsverfahrens zurück, mit der Folge, dass der Rechtsanwalt, der vom Beschuldigten erst nach Anklageerhebung beauftragt worden ist, die Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV verdient.
AG Gießen, Beschl. v. 29.6.2016 – 507 Ds - 604 Js 35439/13
1 Sachverhalt
Nach Einreichung der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft wurde der ehemals Angeklagten diese gem. § 201 StPO zugestellt. Ein Beschluss über die Eröffnung des Hauptverfahrens gem. § 207 StPO erging nicht. Vielmehr wurde auf Anregung des Verteidigers der Ausgang eines anderen Strafverfahrens gegen einen anderen Täter abgewartet, da dieses für das hiesige Verfahren von Relevanz war. Nachdem das andere Verfahren mit einem Freispruch endete, nahm die Staatsanwaltschaft die hiesige Anklage zurück. Daraufhin beantragte der Verteidiger gegenüber der Staatsanwaltschaft im Hinblick auf die zurückgenommene Anklage, das Verfahren endgültig gem. § 170 Abs. 2 StPO einzustellen und die der ehemals Angeklagten entstandenen Kosten und notwendigen Auslagen der Staatskasse aufzuerlegen. Eine entsprechende Einstellungsentscheidung der Staatsanwaltschaft erging anschließend zusammen mit dem Antrag an das Gericht, nach Maßgabe von § 467a Abs. 1 StPO die notwendigen Auslagen der ehemals Angeklagten der Staatskasse aufzuerlegen. Eine dementsprechende Kostengrundentscheidung erging durch das Gericht daraufhin. Mit anschließendem Kostenfestsetzungsantrag beantragte die vormals Angeklagte die Festsetzung folgender Kosten:
1. |
Grundgebühr (Nr. 4100 VV) |
200,00 EUR |
2. |
Verfahrensgebühr (Nr. 4106 VV) |
165,00 EUR |
3. |
Pauschale für Kopien und Ausdrucke (Nr. 7000 Nr. 1a VV) |
42,40 EUR |
4. |
Pauschale Post/Telekommunikation (Nr. 7002 VV) |
20,00 EUR |
5. |
Verfahrensgebühr Ermittlungsverfahren (Nr. 4104 VV) |
165,00 EUR |
6. |
Zusätzliche Gebühr (Nr. 4141 VV) |
165,00 EUR |
7. |
Pauschale Post/Telekommunikation (Nr. 7002 VV) |
20,00 EUR |
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Zwischensumme |
777,40 EUR |
8. |
19 % Umsatzsteuer (Nr. 7008 VV) |
147,71 EUR |
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Gesamt |
925,11 EUR |
Die Landeskasse war der Auffassung, es sei weder eine Zusätzliche Gebühr nach Nr. 4141 VV angefallen noch eine Verfahrensgebühr nach Nr. 4104 VV. Das Gericht hat antragsgemäß festgesetzt.
2 Aus den Gründen
Die Grundgebühr (gem. Nr. 4100 VV) in Höhe von 200,00 EUR ist angefallen, da diese neben der Verfahrensgebühr für die erstmalige Einarbeitung in den Rechtsfall bei der Übernahme des Mandats entsteht.
Gegen die Verfahrensgebühr für den ersten Rechtszug vor dem AG (gem. Nr. 4106 VV) in Höhe von 165,00 EUR bestehen keine Bedenken, da dem hier Prozessbevollmächtigten erst nach Eingang der Anklageschrift bei Gericht Strafprozessvollmacht durch die ehemals Angeklagte erteilt wurde und er erst ab diesem Zeitpunkt seine Tätigkeit mit der Anforderung der Akten zur Einsichtnahme begann.
Auch sind in der Folge die in diesem Verfahrensstadium geltend gemachten Auslagenpauschalen für Kopien und Ausdrucke aus Behörden- und Gerichtsakten und für Entgelte für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen in jeweils oben aufgeführter Höhe entstanden.
Gegen die Festsetzung der soeben aufgeführten Beträge bestanden durch die angeforderte Stellungnahme der Bezirksrevisorin beim LG keine Bedenken. Einwendungen wurden bloß gegen die darüber hinaus beantragten Auslagen erhoben. Demnach sei keine Gebühr für das Vorverfahren nach 4104 VV angefallen, da diese nicht rückwirkend nach einer Anklagerücknahme entstehen könne. Auch die weitere Gebühr für die entbehrlich gewordene Hauptverhandlung nach Nr. 4141 VV sei nicht angefallen, da keine Mitwirkung des Prozessbevollmächtigten an der Einstellung des Verfahrens ersichtlich sei.
Diese Ausführungen können im Ergebnis nicht überzeugen. Vielmehr sind auch diese geltend gemachten Posten dem Antragsteller zu erstatten.
Das gerichtliche Hauptverfahren wurde vorliegend noch nicht eröffnet, so dass die Staatsanwaltschaft die Anklage noch jederzeit zurücknehmen konnte, vgl. § 156 StPO. Als sie dies schlussendlich tat, versetzte sie damit das Verfahren in den Stand des Ermittlungsverfahrens/vorbereitenden Verfahrens zurück (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 57. Aufl., § 156 Rn 2), weshalb die Verfahrensgebühr Ermittlungsverfahren (gem. Nr. 4104 VV) in Höhe von 165,00 EUR zusätzlich angefallen ist. Das Legalitätsprinzip (§ 152 Abs. 2 StPO) wird durch die Rücknahme jedoch nicht berührt. Die Rücknahme kann darauf beruhen, dass die Klage nachträglich als unbegründet erscheint. In diesem Fall kann die Staatsanwaltschaft das Verfahren nach der Rücknahme der Klage einstellen, was vorliegend schließlich auch erfolgte. Dass eine Rücknahme der Anklage automatisch eine Einstellungsentscheidung nach § 170 Abs. 2 StPO nach sich zieht, ist hingegen nicht zwingend der Fall. Ebenso hätte die Klage erneut oder in abgeänderter Form eingereicht werden können. Auch kann die Rücknahme den Zweck verfolgen, das Verfahren nach den Opportunitätsbestimmungen der §§ 153 ff. StPO einzustellen. Durch die erfolgte Rücknahme der Klage ist vorliegen...