Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindesschutzverfahren: Abwägungsmaßstäbe im Verfahren der einstweiligen Anordnung
Leitsatz (amtlich)
1. Das nach § 49 Abs. 1 FamFG erforderliche dringende Bedürfnis zu sofortigem, einstweiligen Einschreiten besteht, wenn eine Folgenabwägung ergibt, dass die Nachteile, die für die Rech-te und Interessen der Beteiligten entstehen, wenn die einstweilige Anordnung unterbleibt, die Hauptsache aber im Sinne des Antragstellers oder amtswegig zur Gefahrenabwehr entschie-den würde, schwerer wiegen als die Nachteile, die durch die vorläufige Maßnahme eintreten können, die aber aufzuheben und rückabzuwickeln ist, wenn sich der Antrag in der Hauptsa-che als unbegründet erweisen sollte.
2. Abzuwägen sind vielmehr die drohenden Nachteile und Schäden, wobei insbesondere in Kindesschutzsachen (§§ 1666, 1666a BGB) zur Erforderlichkeit einer einstweiligen Anordnung die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts und dessen Ausmaß zu berücksichtigen sind. Dabei hat ein Schaden umso mehr Gewicht, je größer seine Eintrittswahrscheinlichkeit und seine Auswirkungen sind (vgl. BverfG FamRZ 2014, 907, Rn. 20, 23; Senat JAmt 2019, 466).
Verfahrensgang
AG Eisenhüttenstadt (Aktenzeichen 3 F 29/20) |
Tenor
Die Beschwerde der Kindesmutter gegen den Beschluss des Amtsgerichts Eisenhüttenstadt vom 12.02.2020 wird zurückgewiesen.
Die Beschwerdeführerin trägt die Kosten ihres Rechtsmittels.
Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 1.500 Euro festgesetzt.
Der Antrag der Beschwerdeführerin auf Verfahrenskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird zurückgewiesen.
Gründe
1. Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die einstweilige Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts und anderer Sorgerechtsbestandteile für ihren am ... 2016 geborenen Sohn ....
Die 1992 geborene Beschwerdeführerin ist Mutter einer 2013 geborenen Tochter und ihres vorgenannten Sohnes, für den sie alleinsorgeberechtigt ist.
Am 29.01.2020 begaben sich zwei Mitarbeiter des Jugendamtes aufgrund einer Meldung, wonach sich die Kinder gänzlich unbekleidet auf dem Sims eines Fensters der mütterlichen Wohnung im 4. Stock bewegt hätten, nach einem Feuerwehr-, Notarzt- und Polizeieinsatz in die Wohnung der Mutter. Dort waren alle Räume mit Müll übersät. Das Kinderzimmer war mit vollgekoteten Windeln zwischen Essensresten vermüllt. In dem Bad, der Küche und dem Kinderzimmer waren Wände und Fußboden mit Tier- und Menschenkot verschmiert. Die Betten der Kinder waren ohne Bettzeug und die Matratzen völlig verdreckt. Der Kühlschrank war gleichfalls verdreckt und in ihm fanden sich keine Nahrungsmittel. In der Wohnung befanden sich 3 Katzen und in dem Katzenklo tierische und menschliche Exkremente.
Das Jugendamt nahm die Kinder gegen den Widerspruch der Mutter, die für diesen Fall mit einem Anwalt und Suizid drohte, in Obhut. Die Kinder wurden mangels vorfindbarer Kleidung in Decken gehüllt mit dem Notarzt in die Klinik gebracht. Der Notarzt stellte eine Verwahrlosung und Unterernährung bei ansonsten guter Grundkonstitution der Kinder fest, die im Januar an nur 3 Tagen die Kita besucht hatten.
Der Vater des Mädchens, mit dem er Umgang hat, berichtete dem Jugendamt am Folgetag, den Zustand der Wohnung gekannt zu haben, indessen ohne Einfluss auf die Mutter nehmen zu können, die ihm vielmehr mit Kindesentzug gedroht habe, sowie mit Suizid und erweitertem Suizid an den Kindern (2).
Die Kinder wurden am 31.01.2020 aus der Klinik in die Obhut des Jugendamtes entlassen. Die Tochter befindet sich seitdem bei ihrem Vater, zuletzt - nach einer gemeinsamen Sorgeerklärung der Eltern - mit Einverständnis der Mutter.
Nach Bestellung eines Verfahrensbeistandes und persönlicher Anhörung der erheblich verspätet zum Termin erschienenen Kindesmutter hat das Amtsgericht mit dem angefochtenen Beschluss, auf den der Senat wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes verweist (30 ff), im Verfahren der einstweiligen Anordnung, den Empfehlungen des Jugendamtes und des Verfahrensbeistandes folgend, das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitssorge und weitere Bestandteile der Personensorge für Leon entzogen. Die Kindesmutter bagatellisiere die Vorgänge und könne die damit verbundenen Kindeswohlgefährdungen schon nicht erkennen und noch weniger abwenden. Von einer sicheren Abwendung der Kindeswohlgefährdung durch eine Kooperation mit dem Jugendamt sei gleichfalls nicht auszugehen.
Mit ihrer hiergegen gerichteten Beschwerde macht die Kindesmutter geltend, die Kinder hätten sich zu keinem Zeitpunkt in großer Gefahr befunden; jedenfalls sei der Sachverhalt in Ansehung einer tatsächlichen Lebensgefahr noch nicht aufgeklärt. Die Wohnung habe sie nach dem Vorfall aufgeräumt und dem Jugendamt deren Kontrolle angeboten. Die Trennung von Mutter und Sohn hält sie für unverhältnismäßig.
Ergänzungspfleger und Verfahrensbeistand verteidigen den angefochtenen Beschluss.
Wegen der weiteren Einzelheiten des zweitinstanzlichen Sach- und Streitstandes verweist der Senat auf die Ko...