Verfahrensgang
SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 05.04.2016; Aktenzeichen S 30 SO 3/11) |
Hessisches LSG (Urteil vom 22.09.2021; Aktenzeichen L 4 SO 87/16) |
Tenor
Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 22. September 2021 wird als unzulässig verworfen.
Der Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.
Gründe
I
Im Streit sind Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).
Der Beklagte gewährte der 1969 geborenen Klägerin ab Juli 2009 laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII, stellte dann aber mit der Begründung, die Klägerin könne mindestens 6 Stunden täglich arbeiten, die Leistungen zum 30.11.2010 ein und wies auf die Möglichkeit hin, Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) zu beantragen (Bescheid vom 18.11.2010; Widerspruchsbescheid vom 7.12.2010). Das Sozialgericht (SG) Frankfurt a.M. hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 5.4.2016). Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat nach Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens den Gerichtsbescheid des SG und die angefochtenen Bescheide des Beklagten aufgehoben und den Beklagten verurteilt, der Klägerin über den 30.11.2010 hinaus Grundsicherungsleistungen zu gewähren (Urteil vom 22.9.2021). Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin sei mindestens seit dem 1.12.2010 voll erwerbsgemindert. Auch wenn noch ein Leistungsvermögen von 3 bis unter 6 Stunden täglich gegeben sei, bestehe aufgrund einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung volle Erwerbsminderung auf Dauer.
Dagegen wendet sich die Beklagte mit der Nichtzulassungsbeschwerde und macht eine Divergenz sowie als Verfahrensmangel die Verletzung rechtlichen Gehörs geltend. Das LSG habe seine Rechtsauffassung, wonach nicht teilweise, sondern volle Erwerbsminderung vorliege, erstmals im Termin der mündlichen Verhandlung zum Ausdruck gebracht. Das LSG wäre zudem im Anschluss an die nach den Ausführungen des Beklagten in der mündlichen Verhandlung gehalten gewesen, weitere Ermittlungen durchzuführen.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig, weil weder der geltend gemachte Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) noch ein Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) in der gebotenen Weise dargelegt bzw bezeichnet worden ist. Der Senat konnte deshalb über die Beschwerde ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter nach § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 3 SGG entscheiden.
Wer eine Rechtsprechungsdivergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) entsprechend den gesetzlichen Anforderungen darlegen will, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze in der Entscheidung des Berufungsgerichts einerseits und in der herangezogenen höchstrichterlichen Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG), des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) oder des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) andererseits gegenüberstellen und dazu ausführen, weshalb beide miteinander unvereinbar sein sollen (vgl zB BSG vom 28.7.2009 - B 1 KR 31/09 B - RdNr 4; BSG vom 28.6.2010 - B 1 KR 26/10 B - RdNr 4; BSG vom 22.12.2010 - B 1 KR 100/10 B - RdNr 4 mwN). Erforderlich ist, dass das LSG bewusst einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt und nicht etwa lediglich fehlerhaft das Recht angewendet hat. Diesen Anforderungen genügen die Darlegungen des Beklagten nicht. Er legt nicht dar, dass das LSG bewusst einen von der Rechtsprechung des BSG abweichenden Rechtssatz aufgestellt und nicht etwa nur das Recht fehlerhaft angewandt hat (sog Subsumtionsfehler; BSG vom 4.3.2020 - B 8 SO 61/19 B - RdNr 7). Er formuliert schon keinen konkreten Rechtssatz im Urteil des LSG. Zudem wird dem LSG zwar Rechtsprechung des BSG entgegengehalten, aber ohne konkrete Rechtssätze des BSG zu bezeichnen und aufzuzeigen, inwieweit ein vom LSG aufgestellter Rechtssatz hierzu in Widerspruch steht.
Es verhilft der Beschwerde auch nicht zur Zulässigkeit, wenn man die Beschwerdebegründung dahingehend versteht, dass der Zulassungsgrund der Divergenz als Unterfall grundsätzlicher Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG, vgl BSG vom 27.1.1999 - B 4 RA 131/98 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 26 S 44) vorgebracht wird. Der Beklagte trägt zwar vor, das LSG habe fehlerhaft (und für ihn, den Beklagten, überraschend) entschieden, dass bei der Klägerin wegen einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung volle Erwerbsminderung iS des § 41 Abs 3 SGB XII vorliege. Es fehlt aber an jeder inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Rechtsauffassung des LSG, der man Fragen grundsätzlicher Bedeutung in diesem Zusammenhang zumindest sinngemäß entnehmen könnte. Ob und ggf wie weit sich vorliegend abstrakt klärungsbedürftige und konkret klärungsfähige Fragen zur Übertragbarkeit der rentenrechtlichen Rechtsprechung zu der Bestimmung der üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes bei Vorliegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen bzw einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung auf das Recht der Grundsicherung stellen könnten (vgl BSG vom 23.3.2010 - B 8 SO 17/09 R - BSGE 106, 62 = SozR 4-3500 § 82 Nr 6, RdNr 14; zur sog "Arbeitsmarktrente" vgl BSG vom 21.12.2009 - B 14 AS 42/08 R - BSGE 105, 201 = SozR 4-4200 § 8 Nr 1, RdNr 16; vgl auch Thie in LPK-SGB XII, 12. Aufl 2020, § 41 RdNr 22; Blüggel in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl 2020, § 41 RdNr 56 f), wird an keiner Stelle dargelegt. Der Beklagte macht nur die Unrichtigkeit des angegriffenen Urteils geltend, was die Zulassung der Revision aber nicht begründen kann (vgl nur BSG vom 26.6.1975 - 12 BJ 12/75 - SozR 1500 § 160a Nr 7).
Der Beklagte hat auch einen Verfahrensfehler des LSG nicht ordnungsgemäß bezeichnet. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Um einen Verfahrensmangel in diesem Sinne geltend zu machen, müssen die Umstände bezeichnet werden, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (vgl zB BSG vom 29.9.1975 - 8 BU 64/75 - SozR 1500 § 160a Nr 14; BSG vom 24.3.1976 - 9 BV 214/75 - SozR 1500 § 160a Nr 24; BSG vom 18.2.1980 - 10 BV 109/79 - SozR 1500 § 160a Nr 36).
Soweit der Beklagte eine Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs iS von § 62 SGG, Art 103 Abs 1 Grundgesetz (GG) rügt, weil ihm das LSG in der mündlichen Verhandlung seinen Rechtsstandpunkt eröffnet habe, genügt sein Vorbringen nicht den Anforderungen an die Begründung eines Verfahrensmangels. Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, müssen die Beteiligten die Gelegenheit erhalten, ihren Standpunkt in der mündlichen Verhandlung darzulegen. Dass dies nicht der Fall gewesen sein soll, behauptet der Beklagte nicht. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, warum es ihm nicht möglich gewesen sein soll, zur Sache vorzutragen oder sich Gehör zu verschaffen oder ggf einen Beweis- oder Vertagungsantrag zu stellen. Auch soweit der Beklagte sinngemäß eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör durch eine Überraschungsentscheidung rügt, wird ein Verfahrensfehler nicht hinreichend bezeichnet. Ein Verstoß gegen § 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG liegt ua vor, wenn das Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen einzubeziehen, nicht nachgekommen ist oder sein Urteil auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützt, zu denen sich die Beteiligten nicht haben äußern können (vgl zB BSG vom 23.5.1996 - 13 RJ 75/95 - SozR 3-1500 § 62 Nr 12 S 19). Es gibt schon keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichtet, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gesichtspunkte zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (vgl BSG vom 13.10.1993 - 2 BU 79/93 - SozR 3-1500 § 153 Nr 1 S 3). Zwar besteht eine Hinweispflicht dann, wenn auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter - selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Auffassungen - nach dem bisherigen Prozessverlauf mit der Auffassung des Gerichts nicht zu rechnen braucht (vgl BVerfG vom 29.5.1991 - 1 BvR 1383/90 - BVerfGE 84, 188 = NJW 1991, 2823 - juris RdNr 7). Dass das LSG entsprechende Hinweise in der mündlichen Verhandlung dem Beklagten nicht gegeben hat, behauptet der Beklagte nicht, sondern bringt sogar vor, auf entsprechende Hinweise selbst Ausführungen gemacht zu haben. Eine Verletzung rechtlichen Gehörs ist danach nicht ansatzweise dargetan.
Soweit sich der Beklagte sinngemäß auf eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG stützt, hätte er ua einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrag bezeichnen, die Rechtsauffassung des LSG wiedergeben, aufgrund der bestimmte Tatsachen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen und die von dem betreffenden Beweisantrag berührten Tatumstände darlegen müssen, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben hätten (vgl zB BSG vom 12.12.2003 - B 13 RJ 179/03 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 3 mwN). Hierzu gehört nach ständiger Rechtsprechung des BSG die Darlegung, dass ein Beteiligter - wie hier der Beklagte - einen Beweisantrag bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung gestellt und noch zumindest hilfsweise aufrechterhalten hat (vgl dazu BSG vom 20.9.2013 - B 8 SO 15/13 B - RdNr 10; BSG vom 29.3.2007 - B 9a VJ 5/06 B - BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 11 mwN) oder einen im schriftlichen Verfahren gestellten Beweisantrag aufrechterhalten hat (BSG vom 18.12.2000 - B 2 U 336/00 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 31 S 52; BSG vom 18.2.2003 - B 11 AL 273/02 B - juris RdNr 3). Schon hieran fehlt es.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.
Krauß Scholz Luik
Fundstellen
Dokument-Index HI15148922 |