Verfahrensgang
Hessisches LSG (Urteil vom 07.12.1965) |
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 7. Dezember 1965 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Kläger, der seit Juni 1958 eine Erwerbsunfähigkeitsrente bezieht, begehrt stattdessen die Gewährung von Altersruhegeld von Oktober 1957 an. Seine Klage hatte keinen Erfolg. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) wurde das Urteil des Sozialgerichts (SG) Frankfurt/Main vom 6. Juli 1965 dem Kläger am 26. August 1965 „zugestellt”. Da er oder einer seiner Familienangehörigen von dem Postboten nicht angetroffen worden war, legte dieser es bei der Postanstalt nieder und warf eine schriftliche Mitteilung hierüber (§ 182 der Zivilprozeßordnung – ZPO –) in das Postschließfach des Klägers ein. Mit Schreiben vom 10. Oktober 1965 – beim Berufungsgericht eingegangen am 14. Oktober 1965 – legte der Kläger Berufung ein; diese wurde vom LSG als unzulässig verworfen, weil die Rechtsmittelfrist des § 151 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht gewahrt sei. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) seien nicht gegeben, weil der Kläger nach seinem eigenen Vorbringen die Berufungsfrist von einem Monat nicht ohne Verschulden versäumt habe; denn bereits am 21. September 1965, also fünf Tage vor Ablauf der Rechtsmittelfrist, habe er das Urteil in Empfang genommen. Diese Zeit hätte zur Einlegung einer fristgerechten Berufung ausgereicht. Die Revision wurde nicht zugelassen (Urteil vom 7. Dezember 1965).
Der Kläger legte Revision ein mit dem Antrag,
das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Er rügt das Vorliegen wesentlicher Verfahrensmängel und macht u. a. geltend, das LSG habe die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen, sondern hatte durch ein Sachurteil entscheiden müssen. Die Berufungsfrist sei – entgegen der Meinung des LSG – nicht versäumt worden, weil sie mangels ordnungsgemäßer Zustellung des erstinstanzlichen Urteils nicht zu laufen begonnen habe. Das LSG sei auch unrichtigerweise vom 26. August 1965 als Zustellungsdatum ausgegangen und habe deshalb zu Unrecht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verweigert. Zu den behaupteten Verfahrensfehlern macht der Kläger in der Revisionsbegründung nähere Angaben.
Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
Das Rechtsmittel des Klägers ist, obwohl das LSG in dem angefochtenen Urteil die Revision nicht zugelassen hat, dennoch nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, weil er einen tatsächlich vorliegenden wesentlichen Mangel des Berufungsverfahrens ordnungsgemäß gerügt hat (§ 164 Abs. 2 SGG). Das Vorbringen des Klägers, das Berufungsgericht hätte durch Sachurteil entscheiden müssen, ist berechtigt.
Die Revision trägt vor, das erstinstanzliche Urteil sei nicht wirksam zugestellt worden. Bei der nach § 182 ZPO durchgeführten Ersatzzustellung sei die schriftliche Mitteilung über die Niederlegung des zu übergebenden Schriftstücks nicht in der bei gewöhnlichen Briefen üblichen Weise abgegeben, sondern unzulässigerweise in das Postschließfach des Klägers eingelegt worden. Auch sei die Zustellungsurkunde – entgegen der Meinung des Berufungsgerichts – nicht am 26. August 1965, sondern schon am 21. August 1965 ausgefertigt worden, wie die Zustellungsurkunde ergebe. Deshalb entbehre – hinsichtlich der abgelehnten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand – die Annahme des Gerichts, er habe das Urteil fünf Tage vor Ablauf der Berufungsfrist empfangen, der rechtlichen Grundlage.
Dieses Revisionsvorbringen bezeichnet zwar nicht, wie es § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG verlangt, die verletzte Rechtsnorm. Dieses Unterlassen ist jedoch unschädlich; denn die Revisionsbegründung macht genügend deutlich, daß nach der Ansicht des Klägers das Berufungsgericht die Zulässigkeit der Berufung, d. h. eine Voraussetzung, von der das gesamte weitere Vorfahren nach Einlegung der Berufung abhängt, unrichtig beurteilt und zu Unrecht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt hat (vgl. BSG 1, 227, 230, 231).
Schon der in erster Linie vom Kläger behauptete Verfahrensmangel liegt auch tatsächlich vor. Das LSG geht unrichtigerweise davon aus, daß das erstinstanzliche Urteil im Wege der Ersatzstellung (§ 182 ZPO) dem Kläger wirksam zugestellt wurde. Im Tatbestand wird zwar festgestellt, die erforderliche Mitteilung über die Niederlegung des zuzustellenden Schriftstücks bei der Postanstalt sei in das Postschließfach des Klägers eingelegt worden; die Entscheidungsgründe gehen jedoch auf diesen Umstand nicht näher ein. Daraus ist zu entnehmen, daß das LSG bei Prüfung der Wirksamkeit der Zustellung diese Besonderheit des Zugangs jener Mitteilung rechtlich nicht genügend beachtet und deshalb rechtsirrtümlich die Berufung als verspätet angesehen hat.
Die Notwendigkeit und Art der Zustellung ergibt sich aus den §§ 63 und 135 SGG. Demzufolge richtet sich die Zustellung nach den §§ 2 bis 15 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) vom 3. Juli 1952 (BGBl I 379). Im vorliegenden Falle wurde durch die Post mit Zustellungsurkunde zugestellt (§ 3 Abs. 1 und 2 VwZG), und zwar im Wege der nach Abs. 3 dieser Bestimmung zulässigen Ersatzzustellung gemäß § 182 ZPO. Die hiernach erforderliche schriftliche Mitteilung über die Niederlegung des zu übergebenden Schriftstücks bei der Postanstalt wurde in das Postschließfach des Klägers eingelegt. Dies genügte nicht für eine wirksame Zustellung. Zwar erhielt der Kläger seine gewöhnlichen Briefe üblicherweise im Wege der Abholung aus dem Postschließfach. Das besagt aber noch nicht, daß jene schriftliche Mitteilung mit ihrem Einlegen in das Postschließfach „in der bei gewöhnlichen Briefen üblichen Weise abgegeben” war, wie es § 182 ZPO vorschreibt. Wenn dort vom „abgeben” der Mitteilung die Rede ist, so muß daraus – in Übereinstimmung mit dem Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts (Bay. ObLG) vom 10. Oktober 1963 – R-Reg. 1 St. 347/62 (vgl. NJW 3, 600) – gefolgert werden, daß der Kreis der sonst zulässigen Übermittlungsarten eingeschränkt ist. Das Bay. ObLG nimmt nach der Meinung des erkennenden Senats zu Recht an, daß mit dem Wort „abgeben” der im Gegensatz zur Selbstabholung stehende Normalfall der Übermittlung durch die Post, nämlich das Verbringen der Sendung in das Haus des Empfängers, zum Ausdruck gebracht werden soll. Um so mehr werden dann auch die anschließend in § 182 ZPO genannten besonderen. Übermittlungsarten verständlich, die für den Fall vorgesehen sind, daß ein „abgeben” der Mitteilung in der bei gewöhnlichen Briefen üblichen Weise nicht tunlich ist. Zutreffend hebt das Bay. ObLG in diesem Zusammenhang auch hervor, daß das Postschließfach nicht als ein lediglich in die Postanstalt verlegter Briefkasten des Empfängers angesehen werden kann (BGH Urt. v. 19. Januar 1935 – LM § 130 BGB Nr. 2). Dementsprechend enthalten auch sowohl die frühere wie die derzeitige Allgemeine Dienstanweisung für das Post- und Fernmeldewesen (ADA) die Anweisung, die schriftliche Benachrichtigung mit der Anschrift des Empfängers in der Wohnung abzugeben oder in den Hausbriefkasten einzulegen, gleichzeitig aber das ausdrückliche Verbot, diese Benachrichtigung in das Postfach (oder Postschließfach) des Empfängers einzulegen – vgl. ADA vom 31. August 1964 Abschnitt V, 2 C – IV. Postaufträge, A. Postzustellungsauftrag, § 65 (Niederlegung). Zwar ist das erwähnte Urteil noch unter der Geltung der alten Postordnung (vom 30. Januar 1929) ergangen. Die inzwischen erlassene neue Postordnung (vom 16. Mai 1963) hat jedoch hinsichtlich der hier interessierenden Fragen auf dem Gebiet des Zustellungswesens keine entscheidenden Änderungen gebracht, die es rechtfertigen könnten, von dem erwähnten Urteil abzuweichen. Die Entscheidung des Bay. ObLG geht auch auf das Urteil des BGH vom 4. Juni 1954 (vgl. Betriebsberater 1954, 577) und die dort geäußerte Rechtsauffassung ein, die schriftliche Mitteilung über die Niederlegung dürfe unter Umständen auch in ein Postfach eingelegt worden. Mit Recht stellt das Bay. ObLG klar, daß diese Rechtsansicht das Urteil, des BGH nicht trage, weil es dort allein darum ging ob es einer schriftlichen Mitteilung nach § 182 ZPO überhaupt bedarf, wenn der Zustellungsempfänger zugleich Inhaber eines Postfachs sei. Der Senat hat – nach eigener Prüfung der Rechtslage – keine Bedenken, sich der Rechtsauffassung des Bay. ObLG anzuschließen, zumal die auch im sozialgerichtlichen Verfahren – über das VwZG – für die Zustellung maßgeblichen Vorschriften der ZPO (§§ 180 ff ZPO) eine genaue Einhaltung der vorgeschriebenen Förmlichkeiten erfordern. Hiernach ist die nach § 182 ZPO erforderliche schriftliche Mitteilung über die Niederlegung des zu übergebenden Schriftstücks nicht im Sinne dieser Vorschrift „abgegeben”, wenn sie in das Postschließfach des Zustellungsempfängers eingelegt wird. Ob eine „Rechtsfortbildung” im Sinne der Überlegungen des BGH in dem oben genannten Urteil und im Sinne der Ausführungen von Schumacher in „Deutsche Richterzeitung” 1963 151, angebracht wäre, mag offenbleiben; jedenfalls müßte eine etwaige Ergänzung der einschlägigen Vorschriften dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben.
Das erstinstanzliche Urteil ist dem Kläger somit nicht wirksam zugestellt worden. Die Berufungsfrist hat demzufolge noch nicht zu laufen begonnen. Das LSG hat dies verkannt. Der Kläger sieht darin mit Recht einen wesentlichen Verfahrensfehler. Denn es ist als ein wesentlicher Mangel auf dem Weg zum Urteil anzusehen, wenn das LSG in Verkennung zu beachtender vorfahrensrechtlicher Umstände anstelle eines Sachurteils ein Prozeßurteil erläßt (SozR § 162 SGG Nr. 21; BSG 1, 283, 286).
Unter diesen Umständen braucht der Senat nicht zu prüfen ob auch die weitere Verfahrensrüge, das LSG habe das Zustellungsdatum unrichtig festgestellt und deshalb die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit einer sachlich unzutreffenden Begründung abgelehnt, zur Statthaftigkeit der Revision führt.
Die Revision ist auch begründete weil das angefochtene Urteil auf dem geltend gemachten und tatsächlich vorliegenden Verfahrensmangel beruht. Das LSG hätte, wenn es die Unwirksamkeit der Zustellung des erstinstanzlichen Urteils nicht verkannt hätte, dies sachlich-rechtlich nachprüfen müssen. Demzufolge ist das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, das nunmehr über die Berufung des Klägers sachlich zu entscheiden haben wird.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Unterschriften
Schneider, Dr. Schubert, Heyer
Fundstellen
Haufe-Index 926663 |
NJW 1967, 903 |
MDR 1967, 437 |