Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeitsrente. Erwerbsunfähigkeitsrente. Verweisungstätigkeit. allgemeiner Arbeitsmarkt. Teilzeitarbeitsmarkt. Sachaufklärungspflicht
Orientierungssatz
Bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit und der Erwerbsunfähigkeit eines Schneiders, der allerdings nur Hilfstätigkeiten ausgeübt hat und wegen gesundheitlicher Einschränkungen nur noch Teilzeitarbeit verrichten kann, ist hinsichtlich der Verweisbarkeit in einen von ihm noch auszuübenden Beruf gemäß § 1246 RVO zu prüfen, ob ihm für eine solche Tätigkeit der Arbeitsmarkt noch offensteht. Dies hängt davon ab, in welcher Zahl für den Kläger in Betracht kommende Teilzeitarbeitsplätze in dem für ihn maßgebenden Verweisungsgebiet vorhanden sind und wie hoch die Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen ist und ob das Verhältnis dieser Zahlen ungünstiger ist als 75:100.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG §§ 103, 128
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 03.09.1969) |
SG Berlin (Entscheidung vom 05.12.1967) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 3. September 1969 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger, der seit dem 1. Mai 1969 Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres erhält, für die vorangegangene Zeit vom 1. Oktober 1965 an Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit zusteht.
Das Landessozialgericht (LSG) Berlin hat durch Urteil vom 3. September 1969 unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 5. August 1966 und des klageabweisenden Urteils des Sozialgerichts (SG) Berlin vom 5. Dezember 1967 die Beklagte zur Zahlung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit seit dem 1. Oktober 1965 verurteilt. Es hat folgenden Sachverhalt festgestellt:
Der im Jahre 1904 geborene Kläger ist seit seiner Kindheit taubstumm. Seit 1920 war er mit Unterbrechungen als Schneider tätig. Er hat jedoch keine abgeschlossene Lehre durchgemacht und verfügt auch sonst nicht über die Kenntnisse und Fähigkeiten eines gelernten Schneiders. Vielmehr war er stets nur mit ganz bestimmten Teilarbeiten wie Einsetzen der Ärmel und Annähen des Unterkragens bei Mänteln beschäftigt. Zuletzt war er von 1950 bis 1965 als Stepper und Großstückschneider tätig.
Etwa seit Oktober 1965, dem Monat, in welchem der Kläger Zahlung von Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit beantragt hat, leidet er in verstärktem Maße an verschiedenen Alterskrankheiten, insbesondere einem Herzmuskelschaden und einem erheblichen, fixierten Bluthochdruck ohne sichere Versagenserscheinungen sowie an einem Blasenleiden und an Bronchitis. Er kann deshalb seitdem nur noch für etwa vier bis sechs Stunden täglich leichte körperliche Arbeiten überwiegend im Sitzen verrichten. Er kann dabei insbesondere noch gewöhnliche, elektrisch betriebene Nähmaschinen bedienen, dagegen nicht mehr die mit einem großen Kraftaufwand verbundenen Arbeiten an einer Steppmaschine verrichten.
Das LSG hält den Kläger aufgrund dieses Sachverhalts für erwerbsunfähig, weil es Teilzeitarbeitsplätze für Männer am Wohnort des Klägers (in Berlin) nicht in nennenswerter Zahl gebe. Ebenso könne man in der Damenkonfektion, die für den Kläger ebenfalls in Betracht käme, nicht von einer nicht geringfügigen Zahl entsprechender Arbeitsplätze sprechen. Allerdings sei Teilzeitarbeit im Schneiderberuf vorhanden. Dem Kläger fehlten aber die dafür erforderlichen Kenntnisse und Erfahrungen; dazu müsse er erst wieder eine Anlernzeit durchlaufen, was ihm nicht zuzumuten sei.
Das LSG hat in seinem Urteil die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen. Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt.
Sie beantragt sinngemäß,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Berlin vom 5. Dezember 1967 zurückzuweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die "Feststellung", der Kläger habe als Taubstummer keinen Arbeitsplatz mehr erhalten können, sei nur eine Vermutung. Insoweit hätte der Sachverhalt näher aufgeklärt werden müssen, z. B. durch eine entsprechende Anfrage beim Institut für Arbeitsmedizin in B. Weil das nicht geschehen sei, seien die §§ 103, 128 SGG verletzt worden. Abgesehen hiervon müsse sich der Kläger nach den Beschlüssen des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Dezember 1969 (GS 2/68 und 4/69), weil er noch mehr als halbschichtig arbeiten könne, auf das Arbeitsfeld des gesamten Bundesgebietes verweisen lassen. Bisher lägen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, daß dem Kläger der Arbeitsmarkt im Verweisungsgebiet praktisch verschlossen sei. Im übrigen herrsche insbesondere in industriellen Ballungsgebieten wie z. B. auch in Berlin ein derart erheblicher Mangel an Arbeitskräften, daß männliche Halbtagskräfte ohne weiteres entsprechende Beschäftigungsmöglichkeiten finden könnten.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Verfahrensrügen gingen fehl. Das LSG habe sich nicht auf Vermutungen gestützt, sondern auf umfangreiche Ermittlungen. Im übrigen sei das angefochtene Urteil zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II.
Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als sie zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz führen muß.
Das LSG ist zu dem Ergebnis gelangt, daß es Teilzeitarbeitsplätze für Männer nicht in nennenswerter Zahl gebe, wobei es darauf abgestellt hat, daß für den Kläger in Betracht kommende Arbeitsplätze in nicht geringfügiger Zahl vorhanden sein müssen. Demgegenüber hat der Große Senat des BSG in seinen bereits genannten Beschlüssen entschieden, daß der Versicherte auf Tätigkeiten nur verwiesen werden darf, wenn ihm für diese Tätigkeiten der Arbeitsmarkt praktisch nicht verschlossen ist. Dies hängt davon ab, in welcher Zahl für den Kläger in Betracht kommende Teilzeitarbeitsplätze in dem für ihn maßgebenden Verweisungsgebiet vorhanden sind und wie hoch die Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen ist und ob das Verhältnis dieser Zahlen ungünstiger ist als 75:100.
Da in dem angefochtenen Urteil die hiernach für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit und der Erwerbsunfähigkeit des Klägers im Sinne der §§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) erforderlichen Feststellungen nicht enthalten sind und das Revisionsgericht diese Feststellungen nicht selbst treffen kann, muß das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird die notwendigen Ermittlungen zu treffen haben.
Es wird bei seiner erneuten Verhandlung und Entscheidung auch zu prüfen haben, ob der Kläger aus gesundheitlichen Gründen nicht auf den uneingeschränkten allgemeinen Arbeitsmarkt für Teilzeitbeschäftigungen, sondern nur auf einen stark eingeschränkten Teil dieses Arbeitsmarktes verwiesen werden kann.
Nach den Anhaltspunkten, die der Große Senat in seinen bereits erwähnten Beschlüssen entwickelt hat und von denen die Gerichte ausgehen können, falls nicht im Einzelfall Besonderheiten zu beachten sind, sind diejenigen Versicherten, die aus gesundheitlichen Gründen noch halbschichtig bis vollschichtig arbeiten können, in der Regel nicht berufsunfähig. Für den Kläger, der zu diesen Versicherten zu zählen ist, gilt indessen etwas anderes, weil er in seiner Einsatzfähigkeit außer den zeitlichen auch noch sonstigen erheblichen Beschränkungen unterliegt. Der Kläger, der aus gesundheitlichen Gründen nur noch leichte körperliche Arbeiten überwiegend im Sitzen für vier bis sechs Stunden täglich verrichten kann, ist in seiner Arbeitseinsatzfähigkeit in Teilzeitarbeit noch besonders dadurch eingeschränkt, daß er seit seiner Kindheit taubstumm ist. Ob er aus gesundheitlichen Gründen qualitäts- oder quantitätsmäßig keine der Teilzeittätigkeit entsprechende Normalleistung mehr erbringen kann oder zu denjenigen Versicherten gehört, die nur noch unter Bedingungen arbeiten können, die von den betriebsüblichen Arbeitsbedingungen erheblich abweichen, läßt sich auf Grund der in dem angefochtenen Urteil getroffenen Feststellungen nicht abschließend beurteilen.
Der Kläger ist Zeit seines Lebens mit Teilarbeiten der Tätigkeit eines gelernten Schneiders als Schneider und Stepper versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO ist er nach seinem Berufsbild, wie das LSG zu Recht angenommen hat, zumindest einem Arbeiter mit einem anerkannten Anlernberuf gleichzustellen. Er muß sich auf alle Tätigkeiten eines anerkannten Anlernberufs sowie auf alle ungelernten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes, die nicht zu den Arbeiten einfacher Art gehören, verweisen lassen, soweit er nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten und nach seinem gesundheitlichen Leistungsvermögen derartige Tätigkeiten verrichten kann.
Auf Tätigkeiten eines gelernten Schneiders, für die es nach den Feststellungen des LSG Arbeitsplätze mit Teilzeitarbeit gibt, kann der Kläger nicht verwiesen werden, weil ihm die dafür erforderlichen Berufskenntnisse und Erfahrungen fehlen und weil er, wie das LSG des weiteren festgestellt hat, für andere Tätigkeiten eines gelernten Schneiders, die er bisher nicht verrichtet hat, eine neue Anlernzeit benötigt. Auf Grund seines Gesundheitszustandes kamen für den Kläger in der hier streitigen Zeit in erster Linie wiederum Tätigkeiten als Schneider für Teilarbeiten des gelernten Schneiders in Betracht. Andere Beschäftigungsmöglichkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes in einem anerkannten Anlernberuf oder mit ungelernten Tätigkeiten, die nicht mit Arbeiten einfacher Art verbunden sind, müssen für ihn mit Rücksicht auf seine zusätzliche Behinderung als Taubstummer praktisch von geringer Bedeutung bleiben.
Die Entscheidung über die Erstattung von außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen