Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsschadensausgleich. besonderes berufliches Betroffensein. keine unwiderlegliche Vermutung des schädigungsbedingten Ausscheidens aus dem Berufsleben
Leitsatz (amtlich)
Es existiert keine unwiderlegliche oder auch nur eingeschränkt widerlegliche Vermutung des Inhalts, daß das Ausscheiden eines beruflich besonders betroffenen Schwerbeschädigten aus einem Beruf wahrscheinlich wesentlich durch die Schädigungsfolgen bedingt ist.
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
BVG § 30 Abs. 2 S. 2 Buchst. b, Abs. 3
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 17. Oktober 1995 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch für die Revisionsinstanz nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob der Kläger im Januar 1977 Anspruch auf Berufsschadensausgleich (BSchA) erworben hat.
Bei dem am 19. Mai 1918 geborenen Kläger waren zuletzt als Schädigungsfolgen anerkannt:
- basale Rippenfellschwarte rechts nach Lungendurchschuß mit leichter Einschränkung der Zwerchfellbeweglichkeit. Knochennarbenbrücke zwischen 8. und 9. Rippe.
- Chronische Harnwegs- und Vorsteherdrüsenentzündung nach Blasendurchschuß.
- Narbe in der rechten Leistenbeuge sowie an der linken Gesäßbacke mit Krampfaderbildung an den Beinen und ausgebildeten Unterhautvenen (Caput medusae). Schwellung des rechten Unterschenkels, Unterschenkel-Geschwür.
- Narbig bedingte Bauchdeckenschwäche in linkem Unterbauch.
Der Kläger bezieht seit 1974 unter Anerkennung einer besonderen beruflichen Betroffenheit nach § 30 Abs 2 Satz 2 Buchst b Bundesversorgungsgesetz (BVG) eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vH und ab 1. Januar 1977 – weiterhin unter Anerkennung besonderer beruflicher Betroffenheit – um 70 vH. Nach abgeschlossener Lehre als Maschinenschlosser hat er von 1945 bis 1958 als selbständiger Kaufmann und nach Teilnahme an einem Handelslehrgang als kaufmännischer Angestellter, zuletzt vom Mai 1965 bis zum 31. Dezember 1976 bei der Firma H. … GmbH, H. …, gearbeitet. Dort wurde ihm im Juli 1976 aus personenbezogenen Gründen (unzureichende Arbeitsleistung, Unzuverlässigkeit und Anlässe zu Beanstandungen seines persönlichen Verhaltens) gekündigt. Die Hauptfürsorgestelle Hannover erteilte ihre Zustimmung. Die Kündigungsschutzklage zum Arbeitsgericht Hannover endete am 16. November 1976 mit einem Vergleich, aufgrund dessen der Kläger eine Abfindung und ein Zeugnis erhielt und zum 31. Dezember 1976 aus der Firma ausschied. Seit 1. Januar 1977 war er arbeitslos. Ab 22. Januar 1977 erhielt er Arbeitslosengeld (Alg), ab 21. Januar 1978 Arbeitslosenhilfe (Alhi). Vom 1. Juni 1978 ab gewährte ihm die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte vorgezogenes Altersruhegeld wegen Vollendung des 60. Lebensjahres und längerdauernder Arbeitslosigkeit (§ 25 Abs 2 Angestelltenversichertengesetz ≪AVG≫).
Nachdem der Kläger bereits im Juni 1978 vergeblich Antrag auf BSchA gestellt hatte (der Ablehnungsbescheid des Beklagten vom 30. Mai 1980 wurde durch Klagerücknahme am 16. Juni 1981 bindend) und auch ein Zugunstenantrag vom November 1981 erfolglos geblieben war, beantragte er am 4. März 1988 erneut „gemäß § 44 SGB X … Gewährung von Berufsschadensausgleich wegen schädigungsbedingten Ausscheidens aus dem Erwerbsleben”. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 10. Mai 1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November 1989 ab. Die dagegen gerichtete Klage wies das Sozialgericht (SG) Hannover mit Urteil vom 4. November 1994 ab. Auch die Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen blieb erfolglos. Zur Begründung seiner Entscheidung führte das LSG ua aus: Selbst wenn der Kläger durch sein Ausscheiden bei der Firma H. … GmbH Ende 1976 einen Einkommensverlust erlitten haben sollte, so wäre dieser nicht schädigungsbedingt, sondern auf schädigungsunabhängige Gründe zurückzuführen gewesen. Er habe daher keinen Anspruch auf BSchA.
Mit der – vom Senat zugelassenen – Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 30 Abs 3 BVG. Er habe anerkanntermaßen in den letzten Jahren seines Berufslebens (1974 bis 1976) seine Tätigkeit nur unter besonderem Energieaufwand verrichten können (§ 30 Abs 2 Satz 2 Buchst b BVG). Schon daraus ergebe sich, daß er aus schädigungsbedingten Gründen aus seiner Tätigkeit bei der Firma H. … GmbH ausgeschieden sei. Denn in den Fällen des besonderen beruflichen Betroffenseins nach § 30 Abs 2 Satz 2 Buchst b BVG müsse es für die Feststellung des Ursachenzusammenhangs zwischen den Schädigungsfolgen und dem Ausscheiden aus seiner letzten Berufstätigkeit genügen, wenn der Beschädigte glaubhaft darlege, daß er seinen Arbeitsplatz wegen der Kriegsbeschädigung aufgegeben habe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG Niedersachsen vom 17. Oktober 1995 sowie das Urteil des SG Hannover vom 4. November 1994 zu ändern und den Bescheid des Beklagten vom 10. Mai 1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November 1989 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger unter Rücknahme des Bescheides vom 30. Mai 1980 ab Januar 1977 Berufsschadensausgleich zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Nach dem Gesetz seien Beweiserleichterungen für die Prüfung der Voraussetzungen eines BSchA wegen Ausscheidens aus dem Beruf nicht vorgesehen, und zwar auch dann nicht, wenn zuvor eine besondere berufliche Betroffenheit nach § 30 Abs 2 Satz 2 Buchst b BVG anerkannt worden sei.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist unbegründet. Der Kläger kann nicht verlangen, daß der Bescheid vom 30. August 1980 sowie die folgenden zu seinen Ungunsten ergangenen Bescheide des Beklagten gemäß § 44 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren (SGB X) zurückgenommen werden. Denn Anspruch auf BSchA stand ihm nicht zu, so daß die damaligen Bescheide rechtmäßig waren.
Auszugehen ist von dem Grundsatz, daß nur diejenigen Beschädigten, deren Einkommen durch die Schädigungsfolgen gemindert ist, BSchA erhalten (§ 30 Abs 3 BVG). Dabei kommt es, wovon das LSG zu Recht ausgegangen ist, auf die wesentliche Verursachung des Einkommensverlustes durch die Schädigungsfolgen an (vgl auch Rohr/Sträßer, Bundesversorgungsrecht, Anm 30 zu § 30 BVG). Hinsichtlich des Beweisgrades gilt nicht § 1 Abs 3 Satz 1 BVG, wonach nur für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs genügt. Nach § 30 Abs 5 Satz 1 BVG gilt jedoch hinsichtlich des vom Beschädigten „ohne die Schädigung” nicht erreichten oder aufgegebenen Vergleichsberufs eine entsprechende Beweiserleichterung. Insoweit genügt ebenfalls die Wahrscheinlichkeit. Das gilt auch für die Frage, ob es gerade die Schädigungsfolgen waren, die den Beschädigten gehindert haben, den fraglichen Beruf zu erreichen oder weiterhin auszuüben.
Das LSG hat aber – unter Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe des sozialgerichtlichen Urteils vom 4. November 1989 – festgestellt, daß nicht nur die Kündigung des Klägers durch die Firma H. … GmbH, sondern auch der Abschluß des (außergerichtlichen) Vergleichs vor dem Arbeitsgericht Hannover vom 16. November 1976 auf schädigungsfremde Ursachen (Fehlverhalten des Klägers und Gefährdung des Arbeitsplatzes trotz möglicher formaler Mängel der Kündigung) zurückgingen. Es hat also nicht nur für nicht feststellbar erachtet, daß das Ausscheiden des Klägers aus dem zuletzt ausgeübten Beruf wahrscheinlich auf Schädigungsfolgen beruhte, sondern ausdrücklich andere Ursachen für ausschlaggebend gehalten. An diese Feststellungen ist der Senat gebunden (§ 163 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Diese Feststellungen des LSG kann der Kläger nicht erfolgreich angreifen. Es ist nicht zu erkennen, und wird auch vom Kläger nicht behauptet, daß das LSG sein Recht zur freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) überschritten habe. Der Kläger behauptet lediglich die Mißachtung einer angeblich bestehenden Beweisregel – letztlich einer unwiderleglichen Tatsachenvermutung – des Inhalts, daß bei anerkanntem Vorliegen besonderen beruflichen Betroffenseins iS des § 30 Abs 2 Satz 2 Buchst b BVG stets von der wesentlichen Ursächlichkeit der Schädigungsfolgen für das Ausscheiden aus dem Beruf auszugehen sei. Eine derartige Beweisregel existiert indessen nicht.
Für den Regelfall, und somit auch für den vorliegenden Fall, kommt es für die tatsächliche Beurteilung der Frage, ob ein Beschädigter wahrscheinlich wegen seiner Schädigungsfolgen vorzeitig aus seinem Beruf ausgeschieden ist, auf die Würdigung aller Umstände an. Wenn ein Beschädigter, wie der Kläger, seinen Beruf nur unter Aufwendung außergewöhnlicher Tatkraft (vgl dazu Förster in Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, 7. Aufl, 1992, § 30 RdNr 32) verrichten kann (§ 30 Abs 2 Satz 2 Buchst b BVG), so bestehen allerdings grundsätzlich keine Bedenken, mangels dagegen sprechender Umstände von der Richtigkeit seiner Behauptung auszugehen, er sei wegen des schädigungsbedingten besonderen Energieaufwandes vorzeitig aus diesem Beruf ausgeschieden. Liegen jedoch, wie hier, andere Umstände vor, die für ein Überwiegen schädigungsfremder Ursachen sprechen, so ist im Rahmen freier Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) zu beurteilen, welchen Tatsachen für das Ausscheiden aus dem Beruf das stärkere Gewicht zukommt.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der vom Senat in den Urteilen BSGE 74, 195, 197 = SozR 3100 § 30 Nr 10 und SozR 3-3100 § 30 Nr 16 auf S 38 angesprochenen Verwaltungspraxis der Versorgungsämter, wonach beim Berufswechsel eines Beschädigten in der Regel dessen plausible Behauptung genügt, die Schädigungsfolgen seien für den Berufswechsel maßgeblich gewesen. Sind die Schädigungsfolgen der einzige plausible Umstand, der für die Aufgabe einer besserbezahlten Tätigkeit zugunsten einer minderbezahlten Tätigkeit spricht, so mag kein Anlaß bestehen, dem Beschädigten die Behauptung nicht zu glauben, er habe den Beruf der Schädigungsfolgen wegen gewechselt. Sind dagegen – wie hier – andere Umstände festgestellt, die auf eine schädigungsfremde, im wesentlichen vom Willen des Beschädigten unabhängige Ursache für den Berufswechsel schließen lassen, so ermangelt es auch für die vom Senat angesprochene Verwaltungspraxis an der „Plausibilität”.
Im übrigen würde die vom Kläger geforderte Beweisregel faktisch zu einer Abhängigkeit des Anspruchs auf BSchA von dem Anspruch auf Erhöhung der Rente nach § 30 Abs 2 BVG führen. Das widerspräche aber der strikten Trennung beider Ansprüche (vgl dazu Rohr/Sträßer, Anm 29 zu § 30 BVG aE; BSGE 29, 208 = SozR Nr 36 zu § 30 BVG; SozR 3100 § 30 Nrn 47 und 48; ferner die Entscheidung des Senats vom 29. Januar 1992 – 9a RV 5/90 –, VersorgVerw 1992, 67 Nr 28 mit Anm Kunze, 89 ff). Eine rechtliche Abhängigkeit des Anspruchs auf BSchA von einer anerkannten beruflichen Betroffenheit existiert daher auch nicht für den Fall, daß ein Beschädigter vorzeitig aus dem Beruf ausscheidet, dessen Ausübung ihm anerkanntermaßen schädigungsbedingt nur unter außergewöhnlichen Anstrengungen (§ 30 Abs 2 Satz 2 Buchst b BVG) möglich war. So hat der Senat schon in seiner Entscheidung vom 23. November 1977 (BSGE 45, 161 = SozR 3100 § 30 Nr 31) ausgeführt, daß der nach § 30 Abs 2 Satz 2 Buchst b BVG durch Anerkennung als berufliches Betroffensein berücksichtigte hypothetische Schaden für einen aus schädigungsunabhängigen Gründen vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Beschädigten keinen Anspruch auf BSchA begründet, es sei denn, sein Renteneinkommen sei durch Schädigungsfolgen gemindert. Der Senat sieht keinen Anlaß, von dieser Rechtsprechung abzugehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1174946 |
SozR 3-3100 § 30, Nr.19 |
SozSi 1998, 400 |