Entscheidungsstichwort (Thema)
Verweisungstätigkeit für einen ehemaligen Feldwebel (Berufsunteroffizier)
Leitsatz (amtlich)
Für einen ehemaligen Feldwebel (Berufsunteroffizier) der früheren Wehrmacht ist die Verweisung auf körperlich leichte und geistig anspruchslose Männerarbeiten, insbesondere einfache Bürotätigkeit, nicht zumutbar.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 23 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 21. Januar 1975 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit zusteht.
Der 1914 geborene Kläger wurde nach Abschluß seiner Schlosserlehre und kurzer Tätigkeit als Schlossergeselle 1934 Berufssoldat; seit Juli 1940 war er - bis zum Kriegsende - Feldwebel. Für die Zeit seines Dienstes als Berufssoldat wurde er nach § 72 des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 des Grundgesetzes fallenden Personen (G 131) nachversichert; dabei wurde für die Zeit ab Juli 1940 ein pauschaliertes Monatsentgelt von 300,- RM zugrunde gelegt (Nr. 9 Abs. 5 der Verwaltungsvorschriften zu den §§ 72 bis 74 G 131 vom 5. Januar 1961). Nach dem Kriege war der Kläger - der Kriegsbeschädigter mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 50 % ist - als Handelsvertreter, selbständiger Lebensmittelhändler und selbständiger Fuhrunternehmer tätig.
Im März 1972 beantragte er Versichertenrente aus der Angestelltenversicherung (AnV). Die Beklagte lehnte diesen Antrag ab, weil Berufsunfähigkeit noch nicht vorliege (Bescheid vom 15. Juni 1972). Mit seiner Klage hatte der Kläger in den beiden Vorinstanzen Erfolg; die Beklagte wurde verurteilt, bis zum Abschluß eines Heilverfahrens (Januar 1973) Übergangsgeld und im Anschluß hieran Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Nach der Ansicht des Landessozialgerichts (LSG) schließt das dem Kläger verbliebene Leistungsvermögen eine Verweisung auf eine zumutbare Tätigkeit im Sinne des § 23 Abs. 2 Satz 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) aus. Der Kläger könne nur noch körperlich leichte und geistig anspruchslose Arbeiten verrichten (Karteiarbeiten, Registraturarbeiten, Postabfertigung, Aktenablage, Bedienen von Fotokopiergeräten, Materialbesorgungen im Betrieb, Botengänge und ähnliches). Als "bisheriger Beruf" sei die nachversicherte Tätigkeit als Feldwebel anzusehen; der Feldwebel gehöre zu den herausgehobenen Dienstgraden des Unteroffiziersstandes; seine Tätigkeit entspreche nach Art und Umfang der Leistungsgruppe B 4 der Anlage 1 zur Versicherungsunterlagen-Verordnung - VuVO - (Angestellte mit abgeschlossener Berufsausbildung); das der Nachversicherung zugrunde gelegte Entgelt habe das Lohnniveau dieser Leistungsgruppe noch überstiegen. Tätigkeiten einfacher Art seien dem Kläger deshalb nicht zumutbar.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie rügt eine Verletzung des § 23 Abs. 2 AVG und weist auf das Urteil des 5. Senats vom 29. Juli 1971 (SozR Nr. 95 zu § 1246 RVO) hin, wonach ein früherer Unteroffizier auf einfache Büroarbeiten verwiesen werden kann; dies müsse auch für einen Feldwebel gelten, weil dem unterschiedlichen Dienstrang und der damit verbundenen Besoldungsdifferenz insoweit keine entscheidende Bedeutung zukomme.
Der Kläger beantragt
die Zurückweisung der Revision.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß als bisheriger Beruf des Klägers im Sinne von § 23 Abs. 2 AVG die nachversicherte Tätigkeit als Berufssoldat (Feldwebel) anzusehen ist; insoweit ist unzweifelhaft, daß der Kläger diesen Beruf nicht mehr ausüben kann. Umstritten ist nur, ob er auf andere, nämlich körperlich leichte und geistig anspruchslose Männerarbeiten, insbesondere einfache Büroarbeiten verwiesen werden darf. Das hat das LSG zu Recht verneint.
Nach § 23 Abs. 2 Satz 2 AVG dürfte der Kläger auf diese Tätigkeiten nur verwiesen - d. h. seine Erwerbsfähigkeit auch nach diesen Tätigkeiten beurteilt - werden, wenn sie ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Verglichen mit der "bisherigen" Berufstätigkeit als Feldwebel sind diese Tätigkeiten dem Kläger jedoch nicht zumutbar.
In der Entscheidung SozR Nr. 95 zu § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) wurde bereits Dienstgrad und Entgelt eines Berufssoldaten eine maßgebliche Bedeutung bei Prüfung seiner Verweisbarkeit beigemessen; daß der Versicherte Unteroffizier war und doppelt so hohes Entgelt (200,- RM) als ein einfacher Soldat (100,- RM) bezog, führte dazu, eine Verweisung auf einfachste Tätigkeiten auszuschließen. Folgerichtig müssen der höhere Dienstgrad eines Feldwebels und das gegenüber Unteroffizieren zur gleichen Zeit erneut um 100,- RM höhere Monatsentgelt beim Feldwebel zu einer engeren Begrenzung der Verweisungstätigkeiten führen.
Insoweit hat das LSG als Vergleichsmaßstab die Gliederung in Leistungsgruppen in der Anlage 1 zur VuVO heranziehen dürfen, auch wenn diese Gliederung letztlich nur der Zuordnung von Entgelten für die Feststellung der Rentenbemessungsgrundlage dient. In der Tätigkeit als Feldwebel wäre der Kläger der Leistungsgruppe B 4 zuzuordnen, die im Regelfalle eine abgeschlossene Berufsausbildung voraussetzt. Sein nachversichertes Jahresarbeitsentgelt von 3.600,- RM überschritt dabei noch das in der Anlage 6 dieser Leistungsgruppe zugewiesene Entgelt; es stand sogar dem der Leistungsgruppe B 3 zugewiesenen Entgelt näher. Bürotätigkeiten einfacher Art gehören demgegenüber zur Leistungsgruppe B 5.
Die Hinweise der Beklagten auf die Eingruppierung der Angestellten im öffentlichen Dienst vermitteln kein wesentlich abweichendes Bild. Mit der Beklagten hält der Senat diese Eingruppierung - obgleich sie ebenfalls nur Zwecken der Besoldung dient - für einen brauchbaren Vergleichsmaßstab, wenn die Zulässigkeit von Verweisungen im Rahmen des öffentlichen Dienstes zu beurteilen ist. Dann liegt es nahe, sich an der die Tätigkeiten im öffentlichen Dienst umfassenden Eingruppierung zu orientieren; unbedenklicher als bei anderen tariflichen Einstufungen kann dann diese Eingruppierung "als Spiegelbild der Bedeutung" der in Betracht kommenden Tätigkeiten angesehen werden (vgl. SozR Nr. 104 zu § 1246 RVO). Nach den Ausführungen der Beklagten wird der Feldwebel nach A 7 des Bundesbesoldungsgesetzes besoldet, dies entspreche der Vergütungsgruppe VI b des Bundesangestelltentarifvertrages (BAT). Demgegenüber ordnet die Beklagte die hier in Betracht kommenden Bürotätigkeiten der Vergütungsgruppe BAT VIII zu. Was die Ausgestaltung der Tätigkeit angeht, so wäre der Kläger allerdings wohl eher der Vergütungsgruppe IX als VIII zugehörig anzusehen. Die einkommensmäßige Differenz in der Grundvergütung würde dann monatlich rd. 300,- DM ausmachen.
Die Frage ist daher nur, welches Gewicht den beschriebenen Unterschieden bei der Prüfung der Verweisbarkeit eines Feldwebels auf einfache Bürotätigkeiten beizumessen ist. Das läßt sich nicht nach allgemeinen Richtlinien beantworten. Allenfalls wird man sagen können, daß für einen Bediensteten des öffentlichen Dienstes versicherungsrechtlich eine Verweisung auf Tätigkeiten der nächstniedrigeren Vergütungsgruppe regelmäßig wohl zumutbar ist. Darüber hinaus lassen sich keine Regeln aufstellen. Über die Verweisbarkeit von Angestellten im Rahmen des § 23 AVG muß deshalb die Rechtsprechung, bis sich möglicherweise Regeln bilden lassen, nach den Besonderheiten von Einzelfällen entscheiden. Hiernach pflichtet der Senat aber dem LSG bei, wenn dieses die Verweisung eines früheren Feldwebels auf einfache Bürotätigkeiten, wie überhaupt auf körperlich leichte und geistig anspruchslose Tätigkeiten, nicht für zumutbar erachtet.
Die Revision der Beklagten muß demgemäß zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen