Verfahrensgang
LSG Berlin (Urteil vom 23.07.1975) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 23. Juli 1975 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darum, ob Inflationsbeiträge mitrechnen, soweit die 10 %ige Erhöhung einer nach dem Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) umgestellten Rente erfordert, daß der Versicherte „während mindestens 10 Jahren” für eine versicherungspflichtige Beschäftigung freien Unterhalt oder entsprechend Sachbezüge erhalten hat (Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 9. Juni 1965 – RVÄndG –).
Die 1889 geborene Klägerin bezieht seit 1950 aus der Arbeiterrentenversicherung eine Versichertenrente; diese wurde im März 1957 nach Art. 2 § 32 ArVNG umgestellt und als sog. Faktorenrente weitergezahlt. Der Berechnung lagen ua die in einer Sammelkarte der Sozialversicherungsanstalt Thüringen über die Quittungskarten 1–13 enthaltenen Beitragsmarken zugrunde; auf 89 in der Zeit von Oktober 1921 bis Dezember 1923 geleistete Inflationsbeiträge entfiel kein Steigerungsbetrag.
Im März 1971 beantragte die Klägerin, ihre Rente um 10 vH zu erhöhen. Sie behauptete, im Zeitraum von September 1905 bis Herbst 1936 während mindestens zehn Jahren Sachbezüge erhalten zu haben. Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 11. Januar 1972). Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 30. Mai 1973). Das Landessozialgericht (LSG) Berlin, auf dessen Veranlassung ein Vorverfahren nachgeholt wurde (Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 17. April 1973), hat die Berufung durch Urteil vom 23. Juli 1975 zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Die Voraussetzungen für eine. Neufeststellung nach § 1300 Reichsversicherungsordnung (RVO) lägen nicht vor. Der (inzwischen auf Rentenbezugszeiten seit Juli 1965 beschränkte) Anspruch bestehe nicht. Ausgehend vom Vortrag der Klägerin, dem Inhalt der Sammelkarte sowie den auf den Karten angegebenen Berufsbezeichnungen komme ein Sachbezug nur von Mitte 1907 bis Herbst 1936 in Betracht. Von den auf diese Zeit entfallenden 605 Wochenbeiträgen seien entsprechend dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 22. Mai 1969 – 4 RJ 219/68 – (SozR Nr. 10 zu Art. 2 § 55 ArVNG) 84 in der jeweils höchsten Klasse entrichtete Beiträge abzusetzen. Von den verbleibenden 521 Wochen könnten aber auch die 89 Inflationsbeiträge nicht für den 10-Jahreszeitraum berücksichtigt werden, weil schon vor der Inflation Beiträge der höchsten Klasse V geleistet worden seien und zudem bei der Rentenberechnung Inflationsbeiträge unbewertet blieben, so daß sie auch keine Unterversicherung bewirken könnten.
Die Klägerin hat die – zugelassene – Revision eingelegt. Sie bezweifelt, daß es sich hier um einen Fall des § 1300 RVO handelt. Sie meint, ihre Beitragsleistungspflicht während der Inflation einerseits müsse andererseits nach sich ziehen, daß diese Beiträge beim Vorliegen der anderen Voraussetzungen auf den 10-Jahreszeitraum des Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG angerechnet werden, zumal schon nach § 116 Abs. 2 des Ausbaugesetzes vom 21. Dezember 1937 die gesamte Zeit der Geldentwertung von Oktober 1921 bis Dezember 1923 als Ersatzzeit berücksichtigt worden sei.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, für die Zeit seit Juli 1965 eine um 10 vH höhere Rente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie macht – unabhängig von der Frage, wie die Inflationsbeiträge zu beurteilen sind – geltend: Die Klägerin habe ihren im LSG-Urteil wiedergegebenen Angaben zufolge nach der Heirat 1922 noch ein halbes Jahr als Hausmädchen, dann erst wieder ab September 1926 freien Unterhalt gehabt. Da die im November 1922 ausgestellte Quittungskarte Nr. 9, die mit 56 Inflationsmarken aufgerechnet worden sei, im Gegensatz zur Vorkarte die Berufsbezeichnung „Fabrikarbeiterin” trage, könne es sich um keine Sachbezugszeit gehandelt haben.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz –SGG–).
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision ist unbegründet.
Im Gegensatz zu der vom LSG vertretenen Ansicht ist der Bescheid der Beklagten vom 11. Januar 1972 voll nachprüfbar. § 1300 RVO kann hier keine Anwendung finden. Die Vorschrift gebietet dem Rentenversicherungsträger, der sich bei erneuter Prüfung davon überzeugt, eine Leistung zu Unrecht „abgelehnt … oder zu niedrig festgestellt” zu haben, diese neu festzustellen. Vorausgesetzt wird also ein früherer objektiv unrichtiger Verwaltungsakt. Daran fehlt es hier. Der Rentengewährungsbescheid aus dem Jahre 1950 kommt dafür nicht in Betracht. Ob die „Mitteilung über die Umstellung” (vgl. Art. 2 § 31 Abs. 1 ArVNG) der Deutschen Bundespost vom März 1957 einen Verwaltungsakt enthielt, ist vom BSG bisher offen gelassen worden (vgl. BSGE 15, 96; BSG in SozR Nr. 4 zu Art. 2 § 31 ArVNG) und kann auch hier unentschieden bleiben. Denn Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG stellt eine Sondernorm für die Umstellung dar. Dies ist gesetzessystematisch dadurch zum Ausdruck gekommen, daß sie im 4. Abschnitt über „Sondervorschriften” (§§ 52 bis 55) steht, also nicht im 2. Abschnitt „Leistungen aus der Versicherung”, deren Unterabschnitt B (§§ 31 bis 41) die Umstellung betrifft. Ob dieser besondere gesetzliche Rentenerhöhungsgrund bei der Klägerin vorliegt, ist im Wege der allgemeinen Umstellung der Rente nicht geprüft worden; dazu bestand auch keine Verpflichtung, zumal derartige Fest Stellungen in aller Regel nur unter Mitwirkung des Versicherten, dem eine Darlegungspflicht obliegt, getroffen werden können. Abgesehen davon hat die Klägerin hier – und zwar schon bevor vom LSG die Durchführung des Vorverfahrens veranlaßt worden war – ihren Anspruch auf Rentenbezugszeiten seit Juli 1965 beschränkt; sie ist selbst davon ausgegangen, erst die Neufassung des Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG, insbesondere der Wegfall des Nachweises zu Gunsten der Glaubhaftmachung, habe den Anspruch entstehen lassen können (vgl. Art. 5 § 6 RVÄndG; hierzu BSG in SozR Nr. 3).
Der Bescheid vom 11. Januar 1972 ist rechtmäßig. Nach den Feststellungen des LSG könnte die Klägerin eine Sachbezugszeit von insgesamt 10 Jahren nach Ausklammerung der mit den jeweils höchsten Beiträgen belegten Zeiten (BSG in SozR Nr. 10 zu Art. 2 § 55 ArVNG) nur unter Berücksichtigung von Inflationsbeiträgen erreichen. Diese Beitragszeiten müssen indessen in diesem Zusammenhang außer Betracht bleiben.
Der Wortlaut des Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG scheint allerdings der Klägerin Recht zu geben; er ist aber hier nicht entscheidend. Wenn auch zunächst versucht werden soll, am Wortlaut den erklärten Willen des Gesetzgebers abzulesen, so ist doch schon dabei der Sinnzusammenhang miteinzubeziehen, in den die Einzelbestimmung hineingestellt ist (vgl. BSG in SozR Nr. 9 zu Art. 2 § 55 ArVNG und die dort zitierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts). Darüber hinaus kommt dem Sinn und Zweck der auszulegenden Vorschrift als solcher erhöhte Bedeutung zu, wenn der erkennbare Gedanke des Gesetzes im Wortlaut zu eng oder zu weit zum Ausdruck gekommen ist (vgl. BSG, Größer Senat, Beschluß vom 9. Juni 1961 = BSGE 14, 238, 239 und Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.–8. Aufl., Bd. I/1 S. 190 p VI mit Nachweisen weiterer höchstrichterlicher Rechtsprechung).
Der Gesetzgeber der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze wollte die Unterbewertung der Sachbezüge und die dadurch bedingte Auswirkung auf die Rentenhöhe ausgleichen. Er tat dies, indem er für die Zeit ab Juli 1957 eine Neubewertung dieser Bezüge anordnete (§ 160 Abs. 2 RVO idF Art. 3 § 4 ArVNG). Für die Zeit vor Inkrafttreten des ArVNG (1. Januar 1957) bedurfte es einer Übergangsbestimmung. In Art. 2 § 55 ArVNG wurde dabei unterschieden zwischen Renten, die nach der neuen Rentenformel (§§ 1253 ff RVO) zu errechnen sind (Abs. 2), und den nach Art. 2 §§ 32 ff ArVNG umzustellenden Renten, im wesentlichen also den auf Versicherungsfallen vor dem 1. Januar 1957 beruhenden sogenannten Bestandsrenten (Abs. 1). Während Abs. 2 (idF des ArVNG) auf die einzelnen zu niedrig bewerteten Arbeitsentgelte abhob, mußte für die große Zahl der umzustellenden Renten eine praktikable, vergröbernde Lösung gefunden werden (vgl. hierzu BSG in SozR Nr. 5 zu Art. 2 § 55 ArVNG). Der erkennende Senat hat in dem bereits erwähnten Urteil vom 22. Mai 1969 (SozR Nr. 10 aaO) darauf hingewiesen, daß die pauschale Erhöhung der gesamten (Faktoren-)Rente um 10 vH in der Regel nicht nur zu einem Ausgleich, sondern zu einer Besserstellung führe und deshalb eine Unterbewertung der Sachbezüge in erheblichem Ausmaß – 10 Jahre – vorausgesetzt werde; er hat eine einschränkende Auslegung dahin vorgenommen, daß für die Berücksichtigung dieser 10 Jahre Sachbezugszeiten auszuscheiden hätten, die bereits mit den jeweils höchsten Beiträgen ausgefüllt seien. An diesem Verständnis des Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG ist festzuhalten. Der Normzweck der Vorschrift sowie das Erfordernis einer angemessenen Relation von Leistungsvoraussetzungen einerseits und dem Eintritt des Erfolges zum anderen gebieten darüber hinaus, Sachbezugszeiten insoweit für den 10-Jahreszeitraum unberücksichtigt zu lassen, als kraft Gesetzes die Auswirkung der Gewährung freien Unterhalts auf die Beitragsbewertung und damit auf die Rentenhöhe ausgeschlossen ist. Deshalb müssen auch Inflationsbeiträge außer Ansatz bleiben: Nach dem Recht, das bis zur Rentenreform 1957 galt, entfiel auf Beiträge, die in der Zeit vom 1. Oktober 1921 bis 1923 zur Invalidenversicherung (Arbeiterrentenversicherung) entrichtet sind, kein Steigerungsbetrag (§ 1268 Abs. 4 S 2 RVO aF), dh die Inflationsbeiträge wirkten sich nicht auf die Höhe der damals im wesentlichen aus Grund- und Steigerungsbetrag bestehenden Rente aus. Das gilt im Grundsatz auch für die nach Art. 2 §§ 32 ff ArVNG umgestellte Rente. Diese setzt sich aus dem in Art. 2 § 32 Abs. 3 ArVNG näher umschriebenen Steigerungsbetrag und einem damit zu multiplizierenden Wert zusammen (vgl. Abs. 1 der Vorschrift), der dem Geburtsjahr des Versicherten und dem Jahr des Rentenbeginns entspricht. In die durchschnittlichen, pauschalierenden Werte (Einzelheiten über die Berechnung in BArBl 1957, 221 ff unter F) sind jedoch die Berechnungsvorschriften der RVO idF des ArVNG eingearbeitet, wonach Inflationsbeiträge zu den anrechnungsfähigen Versicherungsjahren zählen und insoweit rentensteigernd wirken (§§ 1250, 1258 iVm §§ 1253 bis 1255 RVO idF des ArVNG). Darin erschöpft sieh aber die Bedeutung der von Oktober 1921 bis 1923 entrichteten Beiträge; für die persönliche Bemessungsgrundlage bleiben sie unberücksichtigt (§ 1255 Abs. 7 – seit dem RVÄndG: Satz 1 – RVO; Art. 2 § 13 ArVNG).
Dieser Überblick zeigt, daß die Klägerin aus ihren in der Inflation geleisteten Beiträgen keine Rechte für Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG herleiten kann. Sie hat durch Entrichtung von Inflationsbeiträgen keinen höheren Verlust erlitten als andere vergleichbare Versicherte auch. Das beurteilt sich nicht, wie sie meint, nach dem Recht, das in den Jahren von (Oktober) 1921 bis 1923 galt, sondern aus der Sicht des ArVNG. Schon deshalb geht auch der Hinweis der Klägerin auf § 116 Abs. 2 Nr. 2 des Ausbaugesetzes vom 21. Dezember 1937 fehl, abgesehen davon, daß jene Bestimmung nicht die Rentenhöhe, sondern nur die Ersatzzeit für die Anwartschaft damaligen Rechts betrifft. Wollte man mit der Revision die 89 Inflationsbeiträge im Rahmen des Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG mitrechnen, so legte man ihnen letztlich eine rentensteigernde Wirkung bei, die das Gesetz gerade ausgeschlossen hat.
Das vom Senat gefundene Ergebnis befriedigt auch bei einem Vergleich mit Abs. 2 des Art. 2 § 55 ArVNG. Dort ist zwar durch das RVÄndG ebenfalls eine Mindestgesamtdauer des Sachbezugs – 5 Jahre – verlangt worden, dies aber lediglich als Grundvoraussetzung, während höhere Lohn- oder Beitragsklassen bzw Arbeitsentgelte auf die Zeiten begrenzt bleiben, für welche die Tabellenwerte günstiger sind; hiernach scheiden Inflationsbeiträge für die Erhöhung aus, weil dieser Zeitraum in der Tabelle (Anlage 2) ausgespart blieb.
Da somit aus Rechtsgründen kein Anspruch der Klägerin auf die Erhöhung der Rente besteht, braucht auf die Gegenrüge der Beklagten nicht eingegangen zu werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen