Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit. Erwerbsunfähigkeit
Orientierungssatz
1. Zu den Beweisfragen, Beweismöglichkeiten und Beweismethoden bei Ermittlung und Konkretisierung des Verhältnisses der Anzahl vorhandener Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen (75:100).
2. Es ist nicht allgemein zulässig, die Ermittlungen über das Vorhandensein von Teilzeitarbeitsplätzen auf Anfragen an die Arbeitsverwaltung zu beschränken (vgl BSG 1969-12-11 GS 4/69 = BSGE 30, 167; BSG 1969-12-11 GS 2/68 = BSGE 30, 192; BSG 1970-07-23 4 RJ 497/67 = SozR Nr 24 zu § 1247 RVO).
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 08.12.1967) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 8. Dezember 1967 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Kläger - geboren 1904 - begehrt für die Zeit vom 1. Juli 1963 bis zum 30. Juni 1969 die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit anstatt der Rente wegen Berufsunfähigkeit. Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat mit Urteil vom 8. Dezember 1967 den Anspruch - anders als das Sozialgericht Duisburg - als unbegründet angesehen. Der Kläger könne allerdings nur halbschichtig (täglich etwa vier Stunden) bestimmte leichte Arbeiten verrichten. Deshalb sei er aber noch nicht erwerbsunfähig; nicht erheblich sei es, ob und in welchem Umfang es Arbeitsplätze für eine nicht vollschichtige Tätigkeit gebe.
Mit der Revision beantragt der Kläger die Aufhebung des Urteils des LSG und die Zurückweisung der Berufung der Beklagten.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist begründet.
Für die Beurteilung, ob ein Versicherter berufsunfähig (§ 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) oder erwerbsunfähig (§ 1247 Abs. 2 RVO) ist, ist es - neben einer Leistungsminderung aus gesundheitlichen Gründen - erheblich, daß Arbeitsplätze, die er mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann, vorhanden sind. Auf Tätigkeiten, für die ihm der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist, darf er nicht verwiesen werden. Der Arbeitsmarkt ist ihm praktisch verschlossen, wenn das Verhältnis der im Verweisungsgebiet vorhandenen, für ihn in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen ungünstiger ist als 75 zu 100. Hierauf kommt es allerdings dann nicht an, wenn der Versicherte einen entsprechenden Arbeitsplatz - jedoch nicht auf Kosten seiner Gesundheit oder nur vorübergehend - innehat oder die Annahme eines solchen ohne triftigen Grund ablehnt. Diese Grundsätze hat der Große Senat des Bundessozialgerichts (BSG) aus der Entstehungsgeschichte und dem Sinn und Zweck der beiden genannten Vorschriften - mit jeweils ausführlichen Begründungen - abgeleitet (BSG 30, 167; 30, 192). Ihre Anwendung zwingt bei der Prüfung, ob Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit vorliegt, zu Ermittlungen darüber, ob - und unter welchen Verhältnissen - der Rentenbewerber tatsächlich arbeitet, ob ihm ein angemessener Arbeitsplatz bekannt geworden oder ob für ihn ein entsprechendes Arbeitsfeld vorhanden ist. Im vorliegenden Fall sind solche Ermittlungen bisher nicht angestellt worden; bis zum Bekanntwerden der Entscheidungen des Großen Senats konnten sie in dieser Weise auch nicht angestellt werden. Sie sind nachzuholen. Dabei sind alle Beweisquellen zu berücksichtigen (vgl. Urteil des Senats vom 23. Juli 1970 - 4 RJ 497/67 -). Nach der Auffassung des Großen Senats ist es nämlich nicht allgemein zulässig, die Ermittlungen über das Vorhandensein von Teilzeitarbeitsplätzen auf Anfragen an die Arbeitsverwaltung zu beschränken.
Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen (vgl. auch BSG SozR zu RVO § 1247 Nr. 21).
Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen