Orientierungssatz
Zur Frage der Berufsbetroffenheit bei einem Kellner (hier: Kniebeschädigung).
Normenkette
BVG § 30 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 8. Mai 1962 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der 1905 geborene Kläger ist von Beruf Kellner; von 1953 bis 1961 war er selbständiger Gastwirt. 1958 beantragte er Versorgung wegen Meniskus- und Kapselschadens am linken Knie. Der Antrag wurde mit Bescheid vom 3. Juli 1959 wegen Fristversäumnis abgelehnt, gleichzeitig heißt es jedoch im Bescheid, daß als Schädigungsfolgen "mäßige Aufbrauchsvorgänge (Arthrosis deformans) im linken Kniegelenk nach Meniskusverletzung" im Sinne der Entstehung bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um unter 25 v.H. anerkannt werden. Der Widerspruch blieb erfolglos. Im Klageverfahren trug der Kläger vor, er sei durch das Leiden beruflich besonders behindert, da er in seiner Gastwirtschaft abends weder stehen noch laufen könne. Mit Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 12. Januar 1961 wurde der Beklagte zur zusätzlichen Anerkennung eines leichten Wackelknies links und Rentengewährung nach einer MdE um 25 v.H. ab 1. Juni 1960 verurteilt. Das SG nahm eine besondere berufliche Betroffenheit an. Auf die Berufung des Beklagten erhob das Landessozialgericht (LSG) ein Gutachten der Chirurgischen Klinik der Städtischen Krankenanstalten Essen. Dieses verneinte das Vorliegen eines Wackelknies stellte aber eine Lockerung des inneren Seitenbandapparates fest und schätzte die MdE im allgemeinen Erwerbsleben auf 20 v.H. Darauf erkannte der Beklagte in der mündlichen Verhandlung, zu der der Kläger nicht erschienen war, "mäßige Aufbrauchsvorgänge (Arthrosis deformans) im linken Kniegelenk nach Meniskusverletzung mit Lockerung des inneren Seitenbandes" als Schädigungsfolge an, beantragte aber die Klage abzuweisen. Mit Urteil vom 8. Mai 1962 hob das LSG das SG-Urteil auf und wies die Klage ab. Ein Wackelknie liege beim Kläger nicht vor. Der Beklagte habe den fachchirurgischen Feststellungen entsprechend ein Anerkenntnis abgegeben. Dieses sei vom Kläger nicht angenommen worden, aber als einseitig wirksame und unwiderrufliche Erklärung bindend. Die MdE betrage hierfür im allgemeinen Erwerbsleben nur 20 v.H. Eine besondere berufliche Betroffenheit im Sinne des § 30 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) liege nicht vor. Zwar sei der Kläger in seinem Beruf als Kellner durch die Schädigungsfolgen behindert, jedoch nicht in erheblich höherem Maße als im allgemeinen Erwerbsleben. Er habe keine erheblichen Schwierigkeiten im Beruf dargelegt, auch lege die Art der Schädigungsfolgen ein Betroffensein des Klägers in seinem Beruf nicht besonders nahe.
Mit der nicht zugelassenen Revision rügt der Kläger Verletzung der §§ 103, 106 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Das LSG habe trotz des Anerkenntnisses des Beklagten das SG-Urteil (in vollem Umfang) aufgehoben. Es habe ferner übersehen, daß der Kläger schon in der Erstinstanz vorgetragen hatte, er könne infolge der Schädigung abends weder gehen noch stehen; auch gegenüber Dr. E habe er angegeben, daß er im Beruf viel stehen müsse und durch die Schmerzen im Bein besonders behindert werde. Das SG habe genaue Feststellungen über die berufliche Behinderung des Klägers getroffen. Nachdem die Gutachten hierauf nicht eingegangen seien, hätte das LSG hierzu den Hausarzt Dr. W hören müssen. Ferner hätte es den Kläger anhören und eine Auskunft der Gastwirtsinnung oder der Gewerkschaft darüber einholen müssen, ob der Kläger in seinem Beruf nur mit besonderen Anstrengungen körperlich-seelischer Art eine finanzielle Einbuße verhindern könne. Ohne weitere Beweiserhebung habe das LSG eine berufliche Betroffenheit nicht verneinen dürfen. Die Auffassung des LSG, daß die Art der Schädigungsfolgen ein Betroffensein des Klägers in seinem Beruf nicht besonders nahe läge, verstoße gegen einen Erfahrungssatz des täglichen Lebens. Damit sei § 128 SGG verletzt. Der Kläger beantragt, unter Aufhebung des Urteils des LSG die Berufung des Beklagten zurückzuweisen und nach dem Klageantrag der ersten Instanz zu erkennen. Der Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, sie als unbegründet zurückzuweisen. Das LSG habe keine weiteren Ermittlungen anstellen müssen, ein Verfahrensmangel liege nicht vor. Der Beigeladene hat den gleichen Antrag gestellt.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG) und auch statthaft, da der Kläger einen wesentlichen Verfahrensmangel gerügt hat, der vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
Zutreffend rügt die Revision, das LSG habe gegen einen Erfahrungssatz des täglichen Lebens dadurch verstoßen, daß es die Auffassung vertrat, die Art der Schädigungsfolgen lege ein Betroffensein des Klägers in seinem Beruf nicht besonders nahe. Das LSG ist davon ausgegangen, daß der Kläger beruflich als Kellner tätig ist. Gerade bei diesem Beruf, der erfahrungsgemäß weitgehend im Gehen und Stehen ausgeübt wird, liegt es nahe, eine Kniebeschädigung ihrer Art nach als eine den Beruf besonders beeinträchtigende Gesundheitsstörung anzusehen. Der Kellner verrichtet seine Tätigkeit im wesentlichen im Gehen und Stehen und hat wenig oder keine Gelegenheit, sich dabei auszuruhen, außerdem hat er bei den zahllosen Gängen während einer Arbeitsschicht zum großen Teil beträchtliche Lasten zu tragen, wobei er erhebliche körperliche Gewandtheit und Geschick aufbieten muß, damit Speisen und Getränke ordnungsgemäß serviert werden. Darüber hinaus muß er auch auf Schnelligkeit in der Bedienung bedacht sein. Gerade beim Beruf eines Kellners muß daher nach der Lebenserfahrung angenommen werden, daß sich hier eine nicht ganz unbedeutende Kniebeschädigung besonders nachteilig auswirkt. Das LSG konnte auch nicht annehmen, daß beim Kläger ausnahmsweise besonders günstige Verhältnisse in beruflicher oder körperlicher Hinsicht bestünden, denn dieser hat bereits im Klageverfahren, als er noch die körperlich eher weniger anstrengende Tätigkeit eines selbständigen Gastwirts ausübte, vorgetragen, daß er abends weder stehen noch laufen könne. Auch dem vom SG gehörten Gutachter, Obermedizinalrat Dr. E, gegenüber hat er angegeben, er habe bei stärkerer Beanspruchung des linken Beines Schmerzen im linken Knie und ein Gefühl der Steifheit; er müsse infolge seines Berufes viel stehen und sei deshalb besonders behindert. Das linke Bein gehorche dann nicht mehr seinem Willen. Er sei deshalb ständig bei Dr. W in Behandlung. Dementsprechend hat Dr. F darauf hingewiesen, daß die Behinderung durch die Schädigungsfolge sich im Beruf des Klägers als Gastwirt wesentlich stärker als z.B. bei einem Bürobeamten auswirke. Was hier für den Beruf eines Gastwirts gesagt ist, gilt nach der Lebenserfahrung in noch stärkerem Maße für einen Kellner, der regelmäßig nicht die Möglichkeit hat, sich hinter dem Schanktisch gelegentlich auszuruhen.
Das LSG hat daher mit seiner Annahme, die Art der Schädigungsfolgen lege ein Betroffensein des Klägers in seinem Beruf nicht besonders nahe, gegen einen Erfahrungssatz des täglichen Lebens verstoßen und damit § 128 SGG verletzt (vgl. BSG 10, 48). Der darin liegende wesentliche Verfahrensmangel macht die Revision bereits statthaft, weshalb nicht geprüft zu werden brauchte, ob auch die weiteren Revisionsrügen durchgreifen; auf sie kam es nicht mehr an.
Das Urteil beruht auch auf diesem wesentlichen Verfahrensmangel, denn es ist nicht auszuschließen, daß das LSG, wenn ihm dieser Verfahrensverstoß nicht unterlaufen wäre, zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre. Zwar mußte das LSG bei Feststellung der im allgemeinen Erwerbsleben gegebenen MdE nicht vom Beruf eines Bürobeamten ausgehen. Hätte es jedoch den obigen Erfahrungssatz nicht außer acht gelassen, so hätte es sich wohl gedrängt gefühlt, die beruflichen Verhältnisse des Klägers, insbesondere etwa die Frage, ob er außergewöhnliche Anstrengungen machen und eine außergewöhnliche Tatkraft aufwenden muß, um einen wirtschaftlichen Schaden zu verhindern (vgl. BSG in SozR BVG § 30 Ca 8 Nr. 8), durch Anhörung des Klägers, seines behandelnden Arztes Dr. ... oder durch weitere Ermittlungen zu klären. Es hätte sich dann wohl auch nicht mit dem Hinweis begnügt, daß der Kläger seinem Prozeßbevollmächtigten keine auf einen echten Berufsschaden hinweisende konkrete Tatsachen mitgeteilt habe, sondern es wäre im Rahmen seiner Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) dieser Frage weiter nachgegangen, insbesondere hätte es auch in der Beweisanordnung vom 1. Dezember 1961 an den Gutachter nicht lediglich die Frage gestellt, in welchem Maße die Erwerbsfähigkeit des Klägers "im allgemeinen Erwerbsleben" gemindert ist.
Die Revision ist sonach begründet, weshalb die angefochtene Entscheidung aufzuheben war. Der Senat konnte in der Sache nicht selbst entscheiden, da es an ausreichenden tatsächlichen Feststellungen hierzu fehlt. Daher war die Sache nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Dieses wird bei seiner erneuten Prüfung evtl. auch zu erwägen haben, wie der Umstand rechtlich zu werten ist, daß der Beklagte in dem vor dem 1. Juni 1960 erlassenen Bescheid vom 3. Juli 1959 den Antrag wegen Fristversäumnisses abgelehnt und gleichzeitig eine Schädigungsfolge anerkannt hat, ferner ob angesichts des Umstandes, daß der Beklagte in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG ein nach Auffassung des LSG bindendes Anerkenntnis abgegeben hat (der Kläger konnte dieses schon deshalb nicht annehmen, weil es ihm nicht zugegangen ist), das SG-Urteil schlechthin aufgehoben und die Klage ohne Einschränkung abgewiesen werden durfte.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen