Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Entscheidung 2006/928/EG. Verfahren für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung. Rechtsstaatlichkeit. Richterliche Unabhängigkeit. Nationale Rechtsvorschriften, mit denen die Regelung der Beförderung von Richtern geändert wird
Normenkette
EUV Art. 2, 19 Abs. 1 Unterabs. 2; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 47
Beteiligte
Asociaţia “Forumul Judecătorilor din România” |
Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ |
Consiliul Superior al Magistraturii |
Tenor
1.Die Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung stellt eine Handlung eines Organs der Europäischen Union dar, die Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV sein kann. Sie fällt, was ihre Rechtsnatur, ihren Inhalt und ihre zeitlichen Wirkungen anbelangt, in den Anwendungsbereich des Vertrags zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der Republik Bulgarien und Rumänien über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union. Die in ihrem Anhang aufgeführten Vorgaben sollen sicherstellen, dass Rumänien den in Art. 2 EUV genannten Wert der Rechtsstaatlichkeit beachtet, und sind für Rumänien in dem Sinne verbindlich, dass Rumänien verpflichtet ist, die zur Erreichung dieser Vorgaben geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, wobei Rumänien gemäß dem in Art. 4 Abs. 3 EUV genannten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit die von der Europäischen Kommission auf der Grundlage der Entscheidung 2006/928 erstatteten Berichte, insbesondere die darin ausgesprochenen Empfehlungen, gebührend zu berücksichtigen hat.
2.Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass nationale Rechtsvorschriften über die Regelung der Beförderung von Richtern gewährleisten müssen, dass der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit gewahrt wird.
3.Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften, nach denen die Regelung der Beförderung von Richtern an ein höheres Gericht auf einer Beurteilung der Arbeit und des Verhaltens der betreffenden Richter beruht, die von einem Ausschuss durchgeführt wird, der sich aus dem Präsidenten und weiteren Mitgliedern des höheren Gerichts zusammensetzt, nicht entgegensteht, sofern die materiellen Voraussetzungen und die Verfahrensmodalitäten für den Erlass von Entscheidungen über die tatsächliche Beförderung so beschaffen sind, dass bei den Rechtsunterworfenen nach einer Beförderung in Bezug auf den betreffenden Richter keine berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit für äußere Faktoren und der Neutralität im Hinblick auf die widerstreitenden Interessen aufkommen können.
4.Die Entscheidung 2006/928 ist dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften, mit denen die Regelung der Beförderung von Richtern geändert wird, nicht entgegensteht, wenn die Europäische Kommission in den gemäß dieser Entscheidung erstatteten Berichten hinsichtlich einer solchen Änderung keine Empfehlung abgegeben hat.
Tatbestand
In der Rechtssache C-216/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Ploieşti (Berufungsgericht Ploieşti, Rumänien) mit Entscheidung vom 16. Februar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 6. April 2021, in dem Verfahren
Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“,
YN
gegen
Consiliul Superior al Magistraturii
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richter P. G. Xuereb, T. von Danwitz (Berichterstatter) und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwalt: N. Emiliou,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“, vertreten durch D. Călin und L. Zaharia als Bevollmächtigte,
- – des Consiliul Superior al Magistraturii, vertreten durch M. B. Mateescu als Bevollmächtigten,
- – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann, I. Rogalski und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Februar 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 2 und des Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, des Art. 267 AEUV, des Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und der Entscheidung 2006/928/EG der Kommissi...