Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen. Rechtsbehelfe. Fehlen von Rechtsbehelfen im Anordnungsmitgliedstaat. Anordnung von Durchsuchungen, Beschlagnahmen und einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz
Normenkette
Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 47; RL 2014/41/EU Art. 14
Beteiligte
Tenor
1. Art. 14 der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen in Verbindung mit deren Art. 24 Abs. 7 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er den Rechtsvorschriften eines Anordnungsmitgliedstaats einer EEA entgegensteht, die keinen Rechtsbehelf gegen den Erlass einer EEA zur Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen sowie einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz vorsehen.
2. Art. 6 der Richtlinie 2014/41 in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 4 Abs. 3 EUV ist dahin auszulegen, dass er es der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats verwehrt, eine EEA zur Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen sowie einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz zu erlassen, wenn die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats keinen Rechtsbehelf gegen den Erlass einer solchen EEA vorsehen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 7. November 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 21. November 2019, in dem Strafverfahren gegen
Ivan Gavanozov
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer sowie der Richter J.-C. Bonichot und M. Safjan,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und T. Machovičová als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch E. de Moustier, A. Daniel und N. Vincent als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von A. Giordano, avvocato dello Stato,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und C. Leeb als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch I. Zaloguin und R. Troosters, dann durch I. Zaloguin und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 29. April 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 4 und Art. 14 Abs. 1 bis 4 der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (ABl. 2014, L 130, S. 1) sowie der Art. 7 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Herrn Ivan Gavanozov, der angeklagt wird, Rädelsführer einer kriminellen Vereinigung zu sein und Steuerstraftaten begangen zu haben.
Rechtlicher Rahmen
Richtlinie 2014/41
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 2, 6, 18, 19 und 22 der Richtlinie 2014/41 heißt es:
„(2) Nach Artikel 82 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) beruht die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen, der seit der Tagung des Europäischen Rates vom 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere allgemein als Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union bezeichnet wird.
…
(6) In dem vom Europäischen Rat vom 10./11. Dezember 2009 angenommenen Stockholmer Programm hat der Europäische Rat die Auffassung vertreten, dass die Einrichtung eines umfassenden Systems für die Beweiserhebung in Fällen mit grenzüberschreitenden Bezügen, das auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung basiert, weiter verfolgt werden sollte. Dem Europäischen Rat zufolge stellten die bestehenden Rechtsinstrumente auf diesem Gebiet eine lückenhafte Regelung dar und bedurfte es eines neuen Ansatzes, der auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruht, aber auch der Flexibilität des traditionellen Systems der Rechtshilfe Rechnung trägt. Der Europäische Rat hat daher ein umfassendes System gefordert, das sämtliche bestehenden Instrumente in diesem Bereich ersetzen soll, unter anderem auch den Rahmenbeschluss 2008/978/JI, und das so weit wie möglich alle Arten von Beweismitteln erfasst, Vollstreckungsfristen enthält und das die Versagungsgründe so weit wie möglich beschränkt.
…
(18) Wie andere Rechtsakte, die auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruhen, be...