Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Luftverkehr. Ausgleichszahlungen für Fluggäste bei großer Verspätung oder Annullierung von Flügen. Befreiung von der Ausgleichspflicht. Außergewöhnliche Umstände. Zumutbare Vorbeugungsmaßnahmen. Technische Störungen, die durch einen versteckten Konstruktionsfehler verursacht wurden. Konstruktionsfehler des Triebwerks eines Flugzeugs. Pflicht des Luftfahrtunternehmens, Ersatzflugzeuge vorzuhalten
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 261/2004 Art. 5 Abs. 3
Beteiligte
D. (Vide de conception du moteur) |
Tenor
1.Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91
ist dahin auszulegen, dass
die Entdeckung eines versteckten Konstruktionsfehlers am Triebwerk eines Flugzeugs, mit dem ein Flug durchgeführt werden soll, unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, selbst wenn das Luftfahrtunternehmen vom Hersteller des Triebwerks mehrere Monate vor dem betreffenden Flug über das Vorliegen eines derartigen Fehlers informiert wurde.
2.Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004
ist dahin auszulegen, dass
ein Luftfahrtunternehmen im Rahmen „aller zumutbaren Maßnahmen“, die es zu ergreifen hat, um den Eintritt und die Folgen eines „außergewöhnlichen Umstands“ im Sinne dieser Bestimmung, wie etwa die Entdeckung eines versteckten Konstruktionsfehlers des Triebwerks eines seiner Flugzeuge, zu vermeiden, eine vorbeugende Maßnahme ergreifen kann, die darin besteht, eine Flotte von Ersatzflugzeugen in Reserve zu halten, vorausgesetzt, dass diese Maßnahme angesichts der Kapazitäten des Unternehmens zum maßgeblichen Zeitpunkt technisch und wirtschaftlich durchführbar ist.
Tatbestand
In der Rechtssache C-411/23
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen) mit Entscheidung vom 26. Mai 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Juli 2023, in dem Verfahren
D. S.A.
gegen
P. S.A.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec (Berichterstatter),
Generalanwältin: L. Medina,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der D. S.A., vertreten durch P. Gad, K. Puchalska und K. Żbikowska, Adwokaci,
- – der P. S.A., vertreten durch E. Cieplak-Greszta, Adwokat,
- – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch N. Yerrell und B. Sasinowska als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der D. S.A., vormals P.[R] (im Folgenden: Klägerin des Ausgangsverfahrens), der Zessionarin der Rechte von J. D., und der P. S.A., einem Luftfahrtunternehmen (im Folgenden: im Ausgangsverfahren in Rede stehendes Luftfahrtunternehmen), wegen dessen Weigerung, J. D., einem Fluggast, dessen Flug eine große Ankunftsverspätung hatte, einen Ausgleich zu leisten.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 1, 14 und 15 der Verordnung Nr. 261/2004 lauten:
„(1) Die Maßnahmen der [Europäischen] Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.
…
(14) Wie nach dem Übereinkommen [zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, geschlossen am 28. Mai 1999 in Montreal und genehmigt im Namen der Europäischen Gemeinschaft durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 (ABl. 2001, L 194, S. 38)] sollten die Verpflichtungen für ausführende Luftfahrtunternehmen in den Fällen beschränkt oder ausgeschlossen sein, in denen ein Vorkommnis auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Solche Umstände können insbesondere bei politischer Instabilität, mit der Durchführung des betreffenden Fluges nicht zu vereinbarenden Wetterbedingu...