Initiativ-Stellungnahme Nr.: 72/2022 des Deutschen Anwaltvereins durch den Ausschuss Familienrecht vom Dezember 2022
I. Zusammenfassung
Der Deutsche Anwaltverein (DAV) sieht aktuell dringenden Handlungsbedarf bei den in der Entscheidung über den Versorgungsausgleich bei der Ehescheidung "vergessenen", "verschwiegenen" oder "übersehenen" Versorgungsanrechten.
Zur Vermeidung einer grundrechtswidrigen Verletzung des Halbteilungsgrundsatzes des ehezeitlichen Versorgungserwerbs müsste der Gesetzgeber eine zeitnahe Regelung vornehmen, um zu verhindern, dass Ehegatten durch den Nichtausgleich von fahrlässig oder vorsätzlich dem Ausgleich entzogenen Versorgungsanrechten irreparabel geschädigt werden.
II. Stellungnahme im Einzelnen
Der DAV schlägt daher vor, § 20 Abs. 1 VersAusglG zu verändern und nach S. 1 als S. 2 einzufügen:
"Dies gilt auch für solche Anrechte, die in der Ausgangsentscheidung vergessen, übersehen oder absichtlich verschwiegen wurden."
Der bisherige S. 2 wird S. 3.
1. Problemdarstellung
In Fällen, in denen Anrechte aufgrund dessen, dass sie vergessen, übersehen oder absichtlich verschwiegen wurden, keiner Teilung zugeführt wurden, besteht nach Rechtskraft der Entscheidung nur die Möglichkeit, diese Anrechte im Rahmen eines Restitutionsverfahrens noch zugunsten der Berechtigten zu teilen. Das Restitutionsverfahren ist allerdings nur unter sehr engen Voraussetzungen zulässig und zudem nach Ablauf von 5 Jahren nach Rechtskraft nicht mehr statthaft. Dass ein Anrecht vergessen wurde, wird häufig erst mehr als 5 Jahre nach Rechtskraft der Scheidung – häufig erst bei Renteneintritt oder nach Tod des ausgleichspflichtigen Ehegatten – bemerkt.
Teilweise sind – dies zeigt die Praxis – "übersehene, vergessene und verschwiegene" Anrechte durchaus werthaltig. Statt des von Verfassung und Gesetz intendierten halbteiligen Ausgleichs der ehezeitliche erworbenen Versorgungsanrechte durch den Versorgungsausgleich, wird ein asymmetrischer Ausgleich durchgeführt und damit ein grundrechtswidriges Ergebnis erzielt.
Ein Schadensersatzanspruch gegen den ausgleichspflichtigen Ehegatten ist nur in den Fällen des absichtlichen Verschweigens des Anrechts durchsetzbar. Diese engen Voraussetzungen sind für den benachteiligten Ehegatten häufig nur schwer nachzuweisen. Zudem ist ein Schadensersatzanspruch gegen den ausgleichspflichtigen Ehegatten nur auf Zahlung einer Geldrente gerichtet, die bei dessen Vorversterben endet.
Ist ein Anrecht vom Familiengericht irrtümlich nicht ausgeglichen worden, besteht für den ausgleichsberechtigten Ehegatten nur die Möglichkeit, die Vermögensschadenshaftpflichtversicherung seines Verfahrensbevollmächtigten in Anspruch zu nehmen. Ist der ausgleichberechtigte Ehegatte im Scheidungsverfahren anwaltlich nicht vertreten gewesen, ist auch diese Möglichkeit nicht gegeben.
2. Aktuelle Rechtsprechung
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in seiner grundlegenden Entscheidung vom 24.7.2013 (XII ZB 340/11) festgestellt, dass die im Ausgangsverfahren zum Versorgungsausgleich übersehenen, verschwiegenen oder vergessene Anrechte weder im Rahmen des Abänderungsverfahrens nach § 51 VersAusglG noch im Rahmen des schuldrechtlichen Versorgungsausgleichs nach § 20 ff. VersAusglG ausgeglichen werden können.
Solange die ausgleichspflichtige Person aus einer übersehenen, vergessenen oder verschwiegenen Versorgung Rentenleistungen bezieht, wäre es im Prinzip möglich, dem insoweit benachteiligten Ehegatten einen Anspruch auf die Rente in Höhe der Hälfte des ehezeitlich erworbenen Versorgungsanspruchs unmittelbar gegen den geschiedenen Ehegatten zuzusprechen. § 20 Abs. 1 VersAusglG könnte nach dem Wortlaut diese Möglichkeit eröffnen. Dieser in Teilen der Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassung hat der BGH eine Absage erteilt. Der spätere Ausgleich von solchen Anrechten führe zu einer nicht gewünschten Rechtskraftdurchbrechung, da diese Anrechte bereits zum Zeitpunkt der Erstentscheidung als ausgleichsreife Anrechte vorhanden gewesen seien.
Aufgrund der derzeitigen höchstrichterlichen Rechtsprechung ist es damit ausgeschlossen, übersehene, vergessene oder absichtlich verschwiegene Anrechte zu einem späteren Zeitpunkt noch auszugleichen.
Im Hinblick auf die Vielzahl der im Versorgungsausgleich oftmals auszugleichenden betrieblichen, privaten und gesetzlichen Versorgungen der beteiligten Eheleute kommt es immer wieder dazu, dass vorsätzlich oder fahrlässig ehezeitlich erworbene Versorgungen von den Ehegatten nicht beauskunftet werden und teilweise – obwohl beauskunftet – von den Gerichten beim Ausgleich übersehen werden. Derartige Entscheidungen sind mit dem Halbteilungsgrundsatz in keiner Weise vereinbar.
Durch das Gesetz zur Änderung des Versorgungsausgleichsrecht vom 12. 5. 2021 wurde in bestimmten Fällen des "Kapitalverzehrs" der schuldrechtliche Versorgungsausgleich auf Wunsch der ausgleichsberechtigten Person zugelassen, wenn durch laufende Rentenleistungen an die ausgleichspflichtige Person ...