GG Art. 6 Abs. 2 Satz 1; BGB § 1666
Leitsatz
Ist das Kind unmittelbar nach der Geburt in einem städtischen Waisenhaus untergebracht worden, so reicht der vage Hinweis des Gerichts auf die unsicheren Bindungen des Kindes zur Mutter, deren anhaltend schwierige Wohn- und Lebensumstände und die konflikthaften Beziehung zum früheren Partner nicht aus, um von einer auch von der Mutter befürworteten langsamen und durch öffentliche Hilfen begleiteten Rückführung des Kindes abzusehen und der Mutter stattdessen im Wege der einstweiligen Anordnung das Sorgerecht insgesamt zu entziehen.
(Leitsatz der Redaktion)
BVerfG, Beschl. v. 14.6.2014 – 1 BvR 725/14 (OLG München, AG München)
1 Aus den Gründen:
[1] I. Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die im Wege der einstweiligen Anordnung erfolgte Entziehung von Teilbereichen des Sorgerechts für ihren im November 2012 geborenen Sohn.
[2] 1. a) Die Beschwerdeführerin ist bulgarische Staatsangehörige und lebte mit ihrem damaligen ebenfalls bulgarischen Lebensgefährten und der gemeinsamen, heute 15-jährigen Tochter in Bulgarien. 2011 zog sie nach Deutschland, wo ihr Lebensgefährte eine Arbeitsstelle gefunden hatte. Die Tochter zog später nach. In Deutschland kam es zu Unstimmigkeiten zwischen den Eltern. Die Beschwerdeführerin lernte den Vater des hier betroffenen Kindes kennen und wurde von diesem schwanger. Die Beschwerdeführerin, ihre Tochter wie auch die Väter der beiden Kinder lebten fortan in wechselnden und ungesicherten Wohnverhältnissen. Als das hier betroffene Kind geboren wurde, verfügte die Beschwerdeführerin über keine Unterkunft. Dessen Vater wohnte in wechselnden Unterkünften seiner Arbeitgeber. Unmittelbar nach seiner Geburt wurde das Kind in der Kinderschutzstelle des städtischen Waisenhauses untergebracht. Aufgrund der unklaren Wohnsituation stimmte die Beschwerdeführerin der Unterbringung zu, bis sie eine neue Wohnung gefunden haben würde. Das Kind lebt nunmehr seit Mitte November 2012 in dem Waisenhaus. Die anschließende Wohnungssuche der Beschwerdeführerin gestaltete sich schwierig. Ende Juli 2013 zog sie in ein Frauenobdach.
[3] b) Mit Schreiben vom 23.7.2013 regte das Jugendamt an, der Mutter für ihren Sohn das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitssorge sowie das Recht, Hilfen zu Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII zu beantragen, zu entziehen. Die auf die Unterbringung des Kindes im Waisenhaus folgende Zeit sei von wiederkehrender Obdachlosigkeit der Eltern, wenig geklärten familiären Verhältnissen und partnerschaftlichen Verstrickungen geprägt. Die zunächst zweimal täglich vereinbarten Besuchstermine der Eltern im Waisenhaus seien von diesen zunehmend nicht oder nur sehr unzuverlässig eingehalten worden, so dass die Besuchssequenzen sukzessive auf zweimal wöchentlich reduziert worden seien. Bei dem Kindsvater sei häufig Alkoholgeruch festzustellen gewesen. Die Eltern seien nicht in der Lage, die Bedürfnisse des Kindes zu erkennen. Der Beschwerdeführerin sei es nach mehreren Interventionen besser gelungen, kindgerecht mit dem Kind zu sprechen und sich angemessen mit diesem zu beschäftigen. Ohne direkte Einflussnahme durch pädagogische Fachkräfte wirke sie jedoch hilflos und überfordert. Bei dem Jungen lägen nunmehr aufgrund der Lebensbedingungen in der Schutzstelle (häufiger Wechsel von Betreuungspersonen, zu viele andere Kinder, häufig unruhige Situationen) sowie der unregelmäßigen und unzuverlässigen Besuchskontakte viele Stressfaktoren vor. Der Junge sei in der weiteren Entwicklung des Sozialverhaltens massiv gefährdet, er benötige für eine gesunde Entwicklung dringend ein stabiles, verlässliches Umfeld mit möglichst wenig Bezugspersonen und Einzelzuwendung. Dieses könnten die Eltern aufgrund ihrer Lebensumstände nicht bieten.
[4] 2. a) Der vom Amtsgericht bestellte Verfahrensbeistand erstattete am 16.8.2013 Bericht und beschrieb den Jungen als "freundliches und ausgeglichenes Baby", das nach Mitteilung der Ärzte altersgemäß entwickelt sei. Die Gruppenleiterin im Waisenhaus sei für das Kind eine wichtige Bezugsperson. Beim Umgangskontakt mit den Eltern habe der Junge viel geschrien. Da die Eltern sehr unzuverlässig seien, könne der Umgang nur begleitet stattfinden. Die Psychologin des Waisenhauses habe hierzu ergänzt, dass mittlerweile eine Entfremdung eingetreten sei. Der sichere Hafen für das Kind seien die Gruppenleiterin des Waisenhauses sowie die Mitarbeiterinnen der Wohngruppe.
[5] b) Die mittlerweile anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin wandte sich gegen die Anregung des Jugendamts. Sie habe sich ständig um eine Wohnung bemüht. Das Wohnungsamt, an das sie das Jugendamt verwiesen habe, habe ihr mitgeteilt, dass für bulgarische Staatsangehörige keine Wohnplätze zur Verfügung stünden. Auf dem freien Wohnungsmarkt und ohne finanzielle Unterstützung hätte sie so schnell keine Wohnung finden können. Sie lebe von beiden Vätern getrennt. Um sich finanziell absichern zu können und eine Wohnung zu finden, gehe sie einer Beschäftigung als Reinigungskraft nach. Allein deshalb hätte...