Leitsatz
Kommt es im Verlauf eines Strafverfahrens zu von den Strafverfolgungsbehörden zu vertretenden nicht erklärbaren Verfahrensverzögerungen, verletzt dies den Beschuldigten in seinem Recht auf ein faires Verfahren. Zieht sich ein Strafverfahren auf diese Art und Weise übermäßig in die Länge, muss das Gericht diesen Umstand bei der Entscheidung über die Strafe berücksichtigen.
Sachverhalt
Das Strafverfahren richtete sich ursprünglich gegen mehrere Geschäftsführer und Telefonverkäufer, die Warentermingeschäfte vermittelt hatten. Das Verfahren gegen den Beschwerdeführer wurde zunächst im Rahmen des ab 1993 laufenden allgemeinen Verfahrens geführt, später abgetrennt. Anklage wurde im Jahr 1997 erhoben. Am 1.8.2000 eröffnete das LG das Hauptverfahren; die Hauptverhandlung begann am 25.8.2000 und führte nach 15 Verhandlungstagen zu einer Entscheidung des LG, mit der der Beschwerdeführer wegen verschiedener Straftaten verwarnt und die Verurteilung zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu je 500 DM vorbehalten wurde. Zu Gunsten des Beschwerdeführers bewertete das LG u.a., dass die Taten bereits sehr lange zurücklägen, sich das Verfahren außergewöhnlich lang hingezogen und den Angeklagten seit Jahren belastet habe. Aufgrund von Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Beschwerdeführers hob der BGH mit Urteil vom 22.8.2001 das LG-Urteil auf. Danach gingen die Verfahrensakten am 24.9.2001 wieder beim LG ein. Die neue Hauptverhandlung wurde im Juni 2002 durchgeführt. Sie führte zu einer Verurteilung des Beschwerdeführers wegen derselben Straftaten mit einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen à 100 EUR. In der Urteilsbegründung wies das LG erneut auf die Verfahrensverzögerung hin, hielt diese aber angesichts des Urteils für ausreichend berücksichtigt. Die Revision des Beschwerdeführers, die sich vor allem auf eine unzureichende Berücksichtigung rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung durch das LG-Urteil stützte, verwarf der BGH. Das BVerfG hat die Verurteilung aufgehoben.
Entscheidung
Das Rechtsstaatsgebot des GG fordert nach Meinung des BVerfG die angemessene Beschleunigung des Strafverfahrens. Eine von Strafverfolgungsorganen zu verantwortende erhebliche Verzögerung des Strafverfahrens verletzt den Beschuldig≫ten in seinem Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren. Ob eine mit dem Rechtsstaatsgebot nicht im Einklang stehende Verfahrensverzögerung vorliegt, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Regelmäßig von Bedeutung sind dabei insbesondere der durch die Verzögerungen verursachte Zeitraum der Verfahrensverlängerung, die Gesamtdauer des Verfahrens, die Schwere des Tatvorwurfs, der Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrensgegenstands sowie das Ausmaß der mit der Dauer des schwebenden Verfahrens für den Betroffenen verbundenen besonderen Belastungen. Keine Berücksichtigung finden Verfahrensverzögerungen, die der Beschuldigte selbst verursacht hat. Die Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zwingt die Strafverfolgungsbehörden dazu, dies bei der Durchsetzung des Strafanspruchs zu berücksichtigen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verpflichtet im Falle eines mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht im Einklang stehenden überlangen Verfahrens zu sorgfältiger Prüfung, ob und mit welchen Mitteln der Staat gegen den Betroffenen (noch) strafrechtlich vorgehen kann. Infolge des Zeitablaufs veränderte Umstände können negative Wirkungen, die von einer staatlichen Sanktion für das künftige Leben des Betroffenen zu erwarten sind, etwa bei einem zwischenzeitlich integrierten Täter, verstärken. Diese Folgen staatlich verschuldeter Verzögerung sind von den Strafverfolgungsbehörden von Verfassungs wegen bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung ebenso zu berücksichtigen wie die bereits erwähnten Umstände, die den Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot begründet haben. Ihre Möglichkeiten reichen von einer Einstellung des Verfahrens nach den §§ 153, 153a StPO, einer Beschränkung der Strafverfolgung nach den §§ 154, 154a StPO über eine Beendigung des Verfahrens durch das Absehen von Strafe oder eine Verwarnung mit Strafvorbehalt bis hin zu einer Berücksichtigung bei der Strafzumessung. Es ist dabei regelmäßig notwendig, dass Art und Umfang der Verletzung des Beschleunigungsgebots ausdrücklich festgestellt und das Ausmaß der Berücksichtigung dieses Umstands in den Urteilsgründen deutlich werden. Reichen die gesetzlich bestehenden Möglichkeiten in besonders krassen Fällen nicht aus, kommt die Einstellung wegen eines Verfahrenshindernisses in Betracht.
Diese allgemeinen Grundsätze wurden nach Ansicht des BVerfG nicht hinreichend beachtet. Die erheblichen Verzögerungen, mit denen das Verfahren von Ermittlungsbehörden und LG betrieben worden ist, und dadurch bedingt die Gesamtdauer des Verfahrens von fast 7½ Jahren seit Kenntnis des Beschwerdeführers von der Einleitung des Ermittlungsverfahrens bis zum rechtskräftigen Abschluss sind mit rechtsstaatlichen Anforderungen an die Durchführun...