Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Pflegeversicherung: Gewährung von Pflegegeldleistungen. Voraussetzung der Zuerkennung einer Pflegestufe. Pflicht zur erneuten Beauftragung eines bestimmten Gutachtens durch das Sozialgericht auf Antrag der Klagepartei
Orientierungssatz
1. Allein der Umstand, dass in einem späteren Gutachten aufgrund einer Verschlechterung des gesundheitlichen Zustands eines Betroffenen ein täglicher Grundpflegebedarf von mehr als 45 Minuten angenommen wurde und damit die Voraussetzungen zur Zuerkennung der Pflegestufe I gegeben waren, führt nicht dazu, dass dieser Pflegebedarf auch auf Zeiten in der Vergangenheit übertragen werden kann, insbesondere wenn für diese Zeiten eine gutachterliche Bewertung keinen entsprechend hohen Grundpflegebedarf ergab.
2. Hat ein Sozialgericht auf Antrag einer Partei einen bestimmten Arzt gutachterlich gehört, so muss es einem solchen Antrag nicht erneut stattgeben, wenn nicht ausnahmsweise besondere Gründe die Notwendigkeit eines weiteren Gutachtens begründen.
3. Einzelfall zur Bewertung des Umfangs eines Pflegebedarfs (hier: Pflegebedarf von mindestens 45 Minuten täglich verneint).
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 17. August 2016 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten noch um die Zahlung von Pflegegeld nach Pflegestufe I für die Zeit ab 27. Dezember 2011 bis 30. November 2016.
Der 1966 geborene Kläger leidet seit seiner Kindheit unter einer Poliomyelitis. In Deutschland war er bis 2011 als Metallarbeiter beschäftigt. Seit 2014 bezieht er eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.
Der Kläger beantragte am 20. Dezember 2011 bei der Beklagten Leistungen der Pflegeversicherung. Die Beklagte holte ein Pflegegutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK), erstellt durch die Pflegefachkraft C., vom 21. Januar 2012 ein, die einen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 32 Minuten feststellte, und lehnte hierauf gestützt den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 27. Januar 2012 ab, da die zeitlichen Anspruchsvoraussetzungen für Leistungen der Pflegekasse bei erheblicher Pflegebedürftigkeit (Pflegestufe I) nicht erreicht würden. Den Widerspruch des Klägers vom 14. Februar 2012 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 22. Juni 2012 zurück.
Der Kläger hat am 26. Juli 2012 Klage zum Sozialgericht Gießen erhoben und die Zahlung von Pflegegeld nach der Pflegestufe I begehrt.
Das Sozialgericht hat die Befundunterlagen der behandelnden Ärzte des Klägers beigezogen und sodann ein Pflegegutachten bei Medizinaldirektorin D. in Auftrag gegeben, welches diese nach Begutachtung des Klägers in häuslicher Umgebung erstattet hat. In ihrem Gutachten vom 28. Februar 2014 kommt die Sachverständige D. zu dem Ergebnis, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen für die Pflegestufe I nicht vorlägen. Bei dem Kläger bestehe ein Postpoliosyndrom mit Parese beider Beine, rechts stärker als links, eine Funktionseinschränkung der Wirbelsäule, Arthropathie der Hüft- und Kniegelenke, Funktionseinschränkung des rechten Schultergelenkes sowie ein chronisches Schmerzsyndrom bei Angst und Depression gemischt. Der Kläger habe einen Hilfebedarf im Bereich der Körperpflege beim Duschen viermal wöchentlich (acht Minuten täglich). Bei der Ernährung habe der Kläger keinen Hilfebedarf. Im Bereich der Mobilität benötige der Kläger Hilfe beim Aufstehen/Zubettgehen zweimal täglich je eine Minute, zweimal täglich beim Ankleiden des Unterkörpers je vier Minuten, beim Entkleiden insgesamt für zweimalige Hilfe vier Minuten pro Tag, beim Stehen und dem Transfer beim Duschen und den Toilettengängen sechsmal täglich Hilfe je eine Minute. Außerdem sei noch Begleitung und Unterstützung beim Gehen ca. 20mal pro Tag, insgesamt zehn Minuten täglich, erforderlich. Insgesamt bestehe einen Hilfebedarf von 38 Minuten. Auf Einwände des Klägers hat Medizinaldirektorin D. in einer ergänzenden Stellungnahme vom 26. Juli 2014 an ihrer Auffassung festgehalten.
Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das Sozialgericht ein Gutachten durch Prof. Dr. E. erstellen lassen. Die Sachverständige gelangt aufgrund persönlicher Begutachtung des Klägers in ihrem Gutachten vom 20. Februar 2015 zu dem Ergebnis, dass bei dem Kläger Pflegebedürftigkeit im Umfang der Pflegestufe II bestehe (Hilfebedarf bei der Teilwäsche des Oberkörpers, der Teilwäsche des Unterkörpers, der Teilwäsche Hände/Gesicht, beim Duschen, beim Baden, bei der Zahn- und Mundpflege, beim Kämmen und beim Rasieren von umgerechnet auf den Tag 50,9 Minuten; kein Hilfebedarf bei der Ernährung, allerdings ein Hilfebedarf beim Aufstehen und Zubettgehen, beim An- und Entkleiden des Unterkörpers, beim Stehen, Transfer Dusche und WC sowie beim Gehen im Umfang von insgesamt 30 Minuten pro Tag).
Das Sozialgericht hat ...