Entscheidungsstichwort (Thema)
Interessenausgleich mit Namensliste. Fehlerhaftigkeit einer Vorauswahl nach betrieblichen Interessen (Leistung/Qualifikation)
Leitsatz (amtlich)
1. Die Vermutung nach § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG entbindet den Arbeitgeber nicht von der prozessualen Obliegenheit, die Betriebsbedingtheit der Kündigung – falls bestritten – darzulegen.
2. Der Arbeitgeber hat unter den vergleichbaren Arbeitnehmern zunächst eine Sozialauswahl gem. § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG zu treffen. Nur soweit durch die danach schutzwürdigen Arbeitnehmer die „berechtigten betrieblichen Interessen” nicht abgedeckt werden, kommt nach Satz 2 die Weiterbeschäftigung von sozial weniger schutzwürdigen Arbeitnehmern in Betracht.
3. Ist der Arbeitgeber bei den Auswahlüberlegungen falsch verfahren, spricht eine tatsächliche Vermutung dafür, daß die Auswahlentscheidung i.S. von § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG fehlerhaft bzw. i.S. von § 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG grob fehlerhaft ist. Der Arbeitgeber kann diese Vermutung entkräften, indem er die ausreichende Berücksichtigung der sozialen Grunddaten des Satzes 1 oder die tatbestandlichen Voraussetzungen der Option des Satzes 2 näher darlegt.
4. § 1 Abs. 3 Satz 2 meint mit „berechtigten betrieblichen Interessen”, soweit es um Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen von Arbeitnehmern geht, betriebliche Notwendigkeiten. Die Darlegungs- und Beweislast für die Gründe des Satzes 2 trägt der Arbeitgeber.
5. § 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG verändert nicht die sich aus § 1 Abs. 3 KSchG ergebende Verteilung der Darlegungslast. Die auf grobe Fehlerhaftigkeit reduzierte Prüfung erstreckt sich nicht auf die Herausnahme von Arbeitnehmern gem. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG; vielmehr bleibt es insoweit bei der vollen gerichtlichen Nachprüfung.
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3; KSchG n.F. § 1
Verfahrensgang
ArbG Wuppertal (Urteil vom 22.10.1997; Aktenzeichen 3 Ca 3678/97) |
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen dasUrteil des Arbeitsgerichts Wuppertal vom 22.10.1997 wird kostenfällig zurückgewiesen.
Tatbestand
Die Beklagte beschloß, Teile der Produktion ins Ausland zu verlagern und 125 Arbeitnehmern zu kündigen. Sie ließ durch Vorgesetzte alle vergleichbaren Arbeitnehmer nach deren Kenntnissen, Fähigkeiten, Leistungen und weiteren Kriterien, z.B. Krankheitszeiten, körperliche Belastbarkeit, Deutschkenntnissen, beurteilen. Die günstig Beurteilten wurden im Umfang des nach der Betriebsänderung verbleibenden Personalbedarfs nicht zur Kündigung vorgesehen; die ungünstig Beurteilten, darunter die 46 Jahre alte, seit 1979 beschäftigte Klägerin, wurden auf eine Namensliste gesetzt. In einigen Fällen erhob der Betriebsrat Einwendungen. Danach kam ein Interessenausgleich mit 125 namentlich bezeichneten zu kündigenden Arbeitnehmern zustande. Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten ist erfolglos geblieben.
Die Parteien streiten über die soziale Rechtfertigung einer betriebsbedingten Kündigung. Die Klägerin bestreitet die Betriebsbedingtheit und rügt die Nichtberücksichtigung sozialer Gesichtspunkte. Die Beklagte verweist auf den zustande gekommenen Interessenausgleich, in dem die zu kündigenden Arbeitnehmer, darunter die Klägerin, namentlich bezeichnet sind, und verteidigt die nach Leistungen, Fähigkeiten, Kenntnissen und anderen arbeitsbezogenen Kriterien getroffene Auswahl.
Die Klägerin, am 28.02.1953 geboren, geschieden, ein unterhaltsberechtigtes Kind, ist seit dem 18.12.1979 als Maschinenarbeiterin (Lohngruppe 3) bei der Beklagten beschäftigt. Sie wird in der Montageabteilung eingesetzt, nachdem sie früher auch eine Zeit lang in der Presserei tätig war.
Die Beklagte ist Zulieferer für die Automobilindustrie und beschäftigt in ihrem Werk in R. über 750 Arbeitnehmer (Stand: Mitte 1997). Im Jahre 1997 beschloß sie, aus wirtschaftlichen Gründen die „Fertigung mittlerer und kleiner Serien/Profilteile” und die „Produktionspalette N.” zum 31.12.1997 ins Ausland zu verlagern. Sie behält die zwei großen Abteilungen „Presserei und Montage” und „Profilscharniere” sowie eine kleine Abteilung zur Teilefertigung für S. und läßt fortan nur noch in Gruppenarbeit arbeiten. Bei der Auswahl der 125 zu kündigenden Mitarbeiter verfuhr sie wie folgt: Sie erstellte ein „Werkerprofil”, nach dessen Vorgaben die Vorgesetzten in einem persönlichen Profil die Leistungen, Fähigkeiten, Kenntnisse und sonstigen Eigenheiten (z.B. Krankheitszeiten, Belastbarkeit) eines jeden Mitarbeiters zu beurteilen hatten. Entsprechend der individuellen Erfüllung des Werkerprofils wählte die Beklagte die Mitarbeiter aus: Die günstig beurteilten Mitarbeiter wurden im Umfang des nach der Betriebsänderung verbleibenden Personalbedarfs nicht zur Kündigung vorgesehen; die übrigen, schlechter beurteilten Mitarbeiter wurden auf eine Namensliste gesetzt. In den Verhandlungen über einen Interessenausgleich erhob der Betriebsrat gegen die Namensliste in sechs Fällen Einwände. Danach kam am 30.06.1997 der Interessenausgleich mit der N...