Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsbedingte Kündigung i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Kündigungsrecht. Vorrang der Änderungskündigung auch bei vorheriger Ablehnung des Änderungsangebots
Leitsatz (amtlich)
Der Vorrang der Änderungskündigung gilt grundsätzlich auch dann, wenn der Mitarbeiter das Änderungsangebot vor Zugang der Kündigung abgelehnt hat
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine Kündigung aus innerbetrieblichen Gründen ist gerechtfertigt, wenn sich der Arbeitgeber zu einer organisatorischen Maßnahme entschließt, bei der im Rahmen der innerbetrieblichen Umsetzung das Bedürfnis für die Weiterbeschäftigung eines oder mehrerer Arbeitnehmer auf Dauer entfällt.
2. Eine ordentliche Beendigungskündigung ist nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausgeschlossen, wenn die Möglichkeit besteht, den Arbeitnehmer auf einem anderen freien Arbeitsplatz - auch zu geänderten Arbeitsbedingungen - weiter zu beschäftigen. Eine solche Weiterbeschäftigungsmöglichkeit hat der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer anzubieten. Das Angebot kann lediglich in Extremfällen (z.B. offensichtlich völlig unterwertiger Beschäftigung) unterbleiben.
Normenkette
KSchG §§ 1, 23
Verfahrensgang
ArbG Aachen (Entscheidung vom 22.11.2022; Aktenzeichen 2 Ca 1570/22) |
Tenor
- Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Aachen vom 22.11.2022 - 2 Ca 1570/22 - wird zurückgewiesen.
- Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.
- Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um eine ordentliche, betriebsbedingte Beendigungskündigung.
Die Beklagte, bei der mehr als 10 Arbeitnehmer ausschließlich der Auszubildenden beschäftigt sind, unterhält in D und in R jeweils eine Altenpflegeeinrichtung.
Die am 1980 geborene, verheiratete Klägerin ist seit dem 01.04.2003 als Pflegekraft bei der Beklagten in der Einrichtung in D tätig. Hierbei erzielte sie zuletzt eine monatliche Vergütung in Höhe von 2.600 Euro brutto.
Im Protokoll der Gesellschafterversammlung der Beklagten vom 11.05.2022 lautete es in Bezug auf den Betrieb in D wie folgt:
"Die Gesellschafter beschließen aus den bekannten und ausführlich diskutierten Gründen einstimmig die Schließung des Betriebes zum 31.12.2022."
Mit Schreiben vom 23.06.2022 kündigte die Beklagte das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis ordentlich zum 31.12.2022. Die entsprechende Kündigungsschutzklage ging am 04.07.2022 beim Arbeitsgericht Aachen ein.
Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, dass diese Kündigung sozial nicht gerechtfertigt sei. Sie hat bestritten, dass die dauerhafte Schließung der Einrichtung in D tatsächlich beabsichtigt sei. Sie hat vorgetragen und behauptet, dass sie jedenfalls in R weiter beschäftigt werden könne. Zudem hat sie bestritten, dass die Beklagte eine Massenentlassungsanzeige ordnungsgemäß erstattet habe.
Die Klägerin hat beantragt,
- festzustellen, dass die Kündigung der Beklagten vom 23.06.2022 das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht zum Ablauf des 31.12.2022 aufgelöst hat, sondern dieses darüber hinaus ungekündigt fortbesteht;
- festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien auch nicht durch andere Beendigungstatbestände aufgelöst worden ist.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat die Ansicht vertreten, dass die streitgegenständliche Kündigung sozial gerechtfertigt sei, da die Einrichtung in D zum 31.12.2022 vollständig geschlossen werde. Von ihrem Weisungsrecht habe die Beklagte keinen Gebrauch gemacht, da der Klägerin die täglichen An- und Abfahrtszeiten nach R sowie die damit verbundenen Kosten nicht zumutbar seien, zumal die Klägerin am Arbeitsmarkt gute Möglichkeiten habe, auch in der Nähe ihres Wohnortes einen geeigneten Arbeitsplatz zu finden. Die Beklagte ist davon ausgegangen, dass die Klägerin einen in R angetretenen Arbeitsplatz nach kurzer Zeit selbst gekündigt hätte. Sie hat die Ansicht vertreten, dass dies der Beklagten nicht zumutbar sei, da der nur für die Klägerin frei gekündigte Arbeitsplatz sodann vermutlich nicht besetzt werden könnte. Der Klage fehle das Rechtsschutzbedürfnis, nachdem die Klägerin eine ihr in R nach Ausspruch der Kündigung angebotene Tätigkeit abgelehnt habe.
Mit Urteil vom 22.11.2022 hat das Arbeitsgericht dem Kündigungsschutzantrag stattgegeben und den allgemeinen Feststellungsantrag als unzulässig abgewiesen. Dies erfolgte im Wesentlichen mit folgender Begründung:
Die Klage sei unzulässig, sowie die Klägerin mit ihrem Klageantrag zu 2) sowie dem zweiten Halbsatz des Antrags zu 1) über den punktuellen Kündigungsschutzantrag hinaus die Feststellung begehre, dass das Arbeitsverhältnis ungekündigt fortbestehe. Ein solcher Antrag sei nur zulässig, wenn weitere Beendigungssachverhalte oder wenigstens deren Möglichkeit in den Prozess eingeführt würden. Dies sei nicht erfolgt.
Im Übrigen sei die Klage begründet. Der streitgegenständlichen Kündigung fehle es an der sozialen Rechtfertigung. Nach § 1 Absatz 2 Satz 2 Nr. 1b KSchG sei die Kündigung dann soz...