Entscheidungsstichwort (Thema)
Zwei-Stufen-Prüfung des "wichtigen Grundes" i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB. Vertragspflichtverletzung als Grund einer verhaltensbedingten ordentlichen Kündigung. Anforderungen an die Begründung eines Auflösungsantrags nach § 9 KSchG
Leitsatz (amtlich)
Einzelfallentscheidung zu einer verhaltensbedingten außerordentlichen fristlosen hilfsweise fristgerechten Kündigung.
Leitsatz (redaktionell)
1. Im Rahmen des § 626 Abs. 1 BGB ist zunächst zu prüfen, ob ein bestimmter Sachverhalt an sich geeignet ist, einen Grund für eine außerordentliche Kündigung zu bilden. Liegt ein solcher Sachverhalt vor, bedarf es der weiteren Prüfung, ob die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile zumutbar ist oder nicht. Dabei hat die Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen.
2. Eine erhebliche Verletzung der den Arbeitnehmer gem. § 241 Abs. 2 BGB treffenden Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des Arbeitgebers kann - je nach den Umständen des Einzelfalls - eine verhaltensbedingte ordentliche Kündigung rechtfertigen.
3. Ein Auflösungsantrag nach § 9 KSchG erfordert im Vergleich mit einer ungerechtfertigten und damit unwirksamen Kündigung eine zusätzliche Begründung. Denn es ist verfassungsrechtlich nicht vertretbar, dass Gründe, die für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses nicht ausreichen, als erheblich genug angesehen werden, die Auflösung des Arbeitsverhältnisses nach § 9 KSchG zu rechtfertigen.
Normenkette
BGB § 626; KSchG § 1; StGB § 303; BGB § 241 Abs. 2; KSchG § 9
Verfahrensgang
ArbG Bonn (Entscheidung vom 02.06.2021; Aktenzeichen 2 Ca 2465/20) |
Tenor
- Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bonn vom 02.06.2021, Az. 2 Ca 2465/20, wird zurückgewiesen.
- Der Auflösungsantrag der Beklagten wird zurückgewiesen.
- Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
- Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen fristlosen, hilfsweise ordentlichen fristgerechten Kündigung der Beklagten vom 03.12.2020.
Die Beklagte betreibt einen Baustoffhandel und beschäftigt an ihrem Standort in E circa 70 Arbeitnehmer. Es ist kein Betriebsrat errichtet.
Der am 1972 geborene Kläger ist bei der Beklagten seit dem 01.03.2015 als Lagerarbeiter, zuletzt zu einem durchschnittlichen Bruttomonatsgehalt in Höhe von 2.200,00 EUR, beschäftigt.
Die Beklagte veräußert unter anderem Gipskartonplatten. Diese werden jeweils in einem Gebinde von 24 Platten zu einem sogenannten Hub gestapelt. Die oberste, nicht zum Verkauf bestimmte Platte (circa 2,50 x 1,25 Meter), dient der Transportsicherung der darunterliegenden Platten und ist mit dem Aufdruck „Verpackungsplatte“ versehen. Zusätzlich werden die Platten mit Eckschutz-Winkeln geschützt und mit einem Kunststoffband zu einer verladungssicheren Einheit verbunden. Die Beklagte erhält ein Hub bereits in dieser Form verpackt vom Hersteller geliefert und verkauft es in der Regel ohne Öffnung der Verpackung an ihre Kunden weiter. Soweit nur einzelne Platten an die Kunden veräußert werden, wird die Einheit durch die Beklagte geöffnet und die nicht benötigten Platten werden aus dem Hub herausgenommen. Da jeweils nur eine Verpackungsplatte in jedem Hub enthalten ist, wird im Fall der Öffnung und Teilung des Hubs ein Teil der Platten zwangsläufig ohne eine den Transport sichernde Verpackungsplatte an die Kunden geliefert.
Mit Schreiben vom 30.10.2019 sprach die Beklagte gegenüber dem Kläger eine Abmahnung aus, mit der sie rügte, dass der Kläger Äußerungen getätigt habe, durch welche sich Kollegen bedroht gefühlt hätten. Wegen der Einzelheiten der Abmahnung wird auf deren Abschrift (Bl.45 der Akte) Bezug genommen.
Zudem sprach die Beklagte gegenüber dem Kläger mit weiterem Schreiben vom 30.10.2019 eine Abmahnung aus. Der Kläger überziehe die Pausenzeiten. Nach der Pause benötige er 15 Minuten, um seine Arbeit wieder aufzunehmen und führe in der Zwischenzeit private Gespräche. Wegen der Einzelheiten der Abmahnung wird auf deren Abschrift (Bl.57 der Akte) Bezug genommen.
Am 02.12.2020 gegen 7:15 Uhr kommissionierte der Kläger den Fahrauftrag Nr. 1 in der Halle 15 der Beklagten. Zu diesem Auftrag gehörte ein Hub Gipskartonplatten der Marke K . Der Kläger öffnete während seiner Arbeitszeit das Gebinde, entnahm die Transportplatte, legte diese zunächst zur Seite, verschloss sodann das Gebinde mit einem neuen Sicherungsband und brachte den Hub zur Warenausgangszone, wo die Ware verladen und ausgeliefert werden sollte. Zu einem späteren Zeitpunkt legte der Kläger die zuvor entnommene Transportplatte in einem Regalfach auf dem Betriebsgelände der Beklagten ab.
Mit Schreiben vom 03.12.2020 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger wegen des Vorfalls außerordentlich fristlos, hilfsweise ordentlich fristgerecht mit Wirkung zum 31...