Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. GdB-Herabsetzung und Entziehung des Merkzeichens G. erhebliche Gehbehinderung. innere Leiden. Darmerkrankung. Versorgungsmedizinische Grundsätze. Verordnungsermächtigung. Gesetzescharakter in der Übergangszeit. sozialgerichtliches Verfahren. Auslegung des Klageantrags. isolierte Anfechtungsklage gegen Herabsetzungs- und Entziehungsbescheid. Unzulässigkeit einer Feststellungs- oder Verpflichtungsklage. Rechtswidrigkeit des Bescheids. maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt. Sach- und Rechtslage bei letzter Behördenentscheidung
Leitsatz (amtlich)
Die Rechtmäßigkeit eines Bescheides, der den GdB herabsetzt oder ein zuerkanntes Merkzeichen nicht mehr feststellt, und selbst kein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung ist, sondern in seiner Wirkung auf die Veränderung der Rechtslage zu einem bestimmten Zeitpunkt beschränkt ist, bestimmt sich nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, in der Regel also (§ 95 SGG) bei Erlass des Widerspruchsbescheides. Anders gäben behauptete oder während des Gerichtsverfahrens tatsächlich eingetretene Änderungen in den gesundheitlichen Verhältnissen des Behinderten zu immer neuen Ermittlungen Anlass und verzögerten den Abschluss.
Orientierungssatz
1. Zum Leitsatz vgl BSG vom 12.11.1996 - 9 RVs 5/95 = BSGE 79, 223 = SozR 3-1300 § 48 Nr 57.
2. Eine Feststellungsklage zur Höhe des Grads der Behinderung (GdB) und zu Merkzeichen ist unzulässig, da im Behindertenrecht allein die zuständige Behörde den GdB und die Merkzeichen feststellen kann (vgl § 69 Abs 1 S 1 SGB 9), nicht aber das Gericht unmittelbar.
3. Einer Verpflichtungsklage auf erneute behördliche Feststellung der zuvor zuerkannten GdB-Feststellungen und Merkzeichen fehlt das notwendige Rechtsschutzbedürfnis, wenn der Kläger bereits mit einer isolierten Anfechtungsklage gegen den Herabsetzungs- und Entziehungsbescheid sein Ziel erreichen kann, diese Zuerkennungen fortbestehen zu lassen.
4. Mit der in § 159 Abs 7 SGB 9 getroffenen Regelung hat der Gesetzgeber mit noch hinreichend bestimmtem Gesetzeswortlaut zum Ausdruck gebracht, dass er sich den insoweit maßgeblichen Verordnungstext in der Anlage zu § 2 VersMedV, also die unter den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG), Teil D, Nrn 1 bis 4 getroffenen Bestimmungen, zu eigen macht und bis zum Inkrafttreten der neuen Verordnung nach § 70 Abs 2 SGB 9 insoweit die VG Gesetzescharakter haben.
5. Mit einer Colitis ulcerosa ist keine unmittelbare Einschränkung des Gehvermögens im Sinne des § 146 Abs 1 S 1 SGB 9 (Merkzeichen G) verbunden.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 18. August 2014 wird zurückgewiesen.
Ziffer 1 des Tenor des Gerichtsbescheids wird wie folgt neu gefasst: “Der Bescheid des Beklagten vom 11. Januar 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. August 2012 wird insoweit aufgehoben, als darin ein Grad der Behinderung von weniger als 90 festgestellt worden ist. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen„.
Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich noch - nach einer Teilrücknahme der Berufung - gegen die Entziehung des Nachteilsausgleichs (Merkzeichens) “G„ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).
Mit Bescheid vom 29. Mai 2007 (Bl. 14 f. Verw.-Akte) hatte der Beklagte dem 1958 geborenen Kläger, der bis zu seiner vorzeitigen Berentung als Jurist Personalleiter war, einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 zuerkannt und das Merkzeichen “G„ festgestellt. Ausweislich der damals eingeholten versorgungsärztlichen Stellungnahme waren eine dialysepflichtige Nierenerkrankung und Anämie (Teil-GdB 100), eine Colitis ulcerosa (10) und eine koronare Herzkrankheit (10) anerkannt worden, die Zuerkennung des Merkzeichens “G„ beruhte auf der Anämie.
In einem Überprüfungsverfahren von Amts wegen im Jahre 2010 holte der Beklagte ärztliche Berichte ein. Der Facharzt für Nieren- und Hochdruckerkrankungen Dr. W. teilte mit, nach einer Nierentransplantation im September 2008 und Immunsuppression bestehe eine Vollremission der Erkrankung. Gleichwohl sei die körperliche Belastbarkeit eingeschränkt. Der Kläger benötige mehrere Medikamente zur Senkung des Blutdrucks. Dieser sei aktuell mit 109/67 mmHg gemessen worden. Eine erneute Anämie bahne sich an. Nach einer Anhörung, auf die der Kläger nicht reagierte, hob der Beklagte mit dem hier angefochtenen Bescheid vom 11. Januar den Feststellungsbescheid vom 29. Mai 2007 auf, erkannte einen GdB von - nur noch - 70 zu und stellte fest, dass die Voraussetzungen des Merkzeichens “G„ nicht mehr vorlägen. Dieser Entscheidung lag die versorgungsärztliche Stellungnahme der Ärztin K. zu Grunde, wonach - unter anderem - eine “Transplantierte Niere (nach Heilungsbewährung)„ nur noch einen GdB von 60 bedinge und eine Anämie nicht mehr bestehe.
Im Vorverfahren trug der Kläger unter anderem vor, er leide auch an einer Depression, einer Lungenerk...