Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Erstattungsansprüche der Leistungsträger untereinander. Anwendbarkeit des § 14 Abs 4 S 1 SGB 9 bzw des § 16 Abs 1 SGB 9 2018 zugunsten des erstangegangenen Rehabilitationsträgers. Anspruch des nachrangig verpflichteten gegen den vorrangig verpflichteten Sozialhilfeträger. örtliche Zuständigkeit. stationäre Leistung. Einrichtungskette. Unterbrechung. Verlassen einer Einrichtung ohne Aussicht auf Fortsetzung der stationären Hilfegewährung. Wechsel in eine ambulant betreute Wohnmöglichkeit. Kompetenzkonflikt. Anspruch des vorläufig leistenden gegen den zur Leistung verpflichteten Sozialhilfeträger
Leitsatz (amtlich)
1.Steht im Zeitpunkt des Verlassens einer Einrichtung nicht fest, ob, wann und wo die (stationäre) Hilfegewährung fortgesetzt werden soll, kann eine rechtserhebliche Unterbrechung der Einrichtungskette vorliegen.
2. Zu den Voraussetzungen eines Erstattungsanspruchs des erstangegangenen Rehabilitationsträgers nach § 102 SGB X bzw § 104 SGB X .
Orientierungssatz
§ 14 Abs 4 S 1 SGB 9 aF und § 16 Abs 1 SGB 9 2018 stellen einen speziellen Erstattungsanspruch des zweitangegangenen Rehabilitationsträgers dar. Zugunsten des erstangegangenen Rehabilitationsträgers begründen sie keinen Erstattungsanspruch.
Tenor
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 8. April 2022 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist ein Erstattungsanspruch des Klägers in Höhe von 148.719,97 EUR für an den Leistungsempfänger M1 L1 (M.L.) für die Zeit vom 1. August 2016 bis 31. Dezember 2019 erbrachte Eingliederungshilfeleistungen streitig.
Bei dem 1992 in Ü1 (B1) geborenen M.L. bestehen eine mittelgradige Intelligenzminderung, eine deutliche Verhaltensstörung sowie eine Persönlichkeitsstörung. Er lebte bis 20. Februar 2013 in der C1 Dorfgemeinschaft H1 e.V., H2 im Zuständigkeitsbereich des Klägers. Die Kosten der stationären Eingliederungshilfe trug der Kläger seit 1. Januar 2005.
Nach einem Vorkommnis in der Einrichtung (Vorwurf eines schweren sexuellen Übergriffs des M.L. gegenüber einer Mitbewohnerin) wurde M.L. wenige Tage später, am 20. Februar 2013, stationär in die akutpsychiatrische Abteilung des Z1 S1 in F1 aufgenommen. Nachdem sich keine weitere Notwendigkeit für eine stationäre psychiatrische Behandlung ergeben und keine Haftgründe vorgelegen hatten, wurde M.L. am 19. März 2013 entlassen (vgl. zu alledem: Entlassbericht Z1 S1 vom 19. März 2013). Da die C1 Dorfgemeinschaft eine Rückkehr des M.L. ausgeschlossen hatte, hielt sich M.L. im Anschluss bei seiner Tante L2 L3 (L.L.) in S2 (Landkreis K1) im Zuständigkeitsbereich des Beklagten auf, um einen neuen Heimplatz für ihn zu finden. Den Heimvertrag mit der C1 Dorfgemeinschaft hatte seine Betreuerin zwischenzeitlich mit Schreiben vom 2. April 2013 gekündigt.
Mit E-Mail vom 13. Mai 2013 beantragte die Betreuerin des M.L. bei dem Kläger die Aufnahme des M.L. in das stationäre Wohnen der Einrichtung der G1-Hilfe für behinderte Menschen gGmbH, M2 (B1). Nach einem Probewohnen teilte die G1-Hilfe dem Kläger mit, dass M.L. dort am 23. Mai 2013 aufgenommen werde und bat um die in Aussicht gestellte Kostenzusage vorab per E-Mail zunächst für ein Jahr. Diese erteilte der Kläger mit E-Mail vom 21. Mai 2013.
Mit Bescheid vom 13. Juni 2013 bewilligte der Kläger dem M.L. Eingliederungshilfe in vollstationärer Form gemäß § 54 ff. Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) in Form der Übernahme der Kosten des stationären Wohnens ab dem 23. Mai 2013 vorerst bis zum 31. Mai 2014.
Mit Bescheid vom 22. Januar 2014 übernahm der Kläger für M.L. ab 21. Januar 2014 bis auf Weiteres die Kosten der Eingliederungshilfe nach §§ 54 SGB XII , 41 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) für die Beschäftigung in der Werkstatt für behinderte Menschen der Stiftung L4 in M2.
Die Eingliederungshilfeleistungen an M.L. wurden vom Kläger regelmäßig weiterbewilligt (vgl. Bescheide vom 18. März 2015, 9. Juni 2016). Ab dem 16. Februar 2018 wechselte M.L. in ein Betreutes Wohnen in Familien in T1 (B1), das von einer Fachkraft der L4 Teilhabe gGmbH betreut wurde, wofür der Kläger unter dem 30. April 2018 eine Kostenzusage erteilte und weiterhin Eingliederungshilfe bewilligte (Bescheide vom 6. November 2018, 18. April 2019, 23. September 2019).
Mit Schreiben vom 25. Februar 2014 machte der Kläger bei dem Beklagten Kostenerstattung nach § 105 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) geltend und beantragte die Übernahme des Falles durch den Beklagten in die eigene Zuständigkeit. Zur Begründung führte er aus, bei einer Fallüberprüfung sei die Akte nochmals durchgesehen worden. Nach dem Klinikaufenthalt habe M.L. bei seiner Tante L.L. im Bereich des Beklagten einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet.
Mit Schreiben vom 7. Oktober 2014 lehnte der Beklagte eine Kostenerstattung und eine Fallübernahme ab, denn der Hilfeempfänger h...