Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. erstmaliges Begehren des Merkzeichens G im Widerspruchsverfahren. sachliche und funktionale Unzuständigkeit der Widerspruchsbehörde. Rechtswidrigkeit des Widerspruchsbescheids. Schwerbehindertenrecht. GdB-Feststellung. GdB von 50 als Voraussetzung für Merkzeichen B
Leitsatz (amtlich)
Entscheidet im Schwerbehindertenrecht die Widerspruchsbehörde über ein erstmals im Vorverfahren geltend gemachtes rechtlich selbstständiges Begehren, so ist der Widerspruchsbescheid wegen ihrer funktionalen und sachlichen Unzuständigkeit insoweit rechtswidrig und auf Anfechtungsklage hin aufzuheben.
Orientierungssatz
Zur Feststellung des Grads der Behinderung (GdB) nach den in der Anlage zu § 2 VersMedV geregelten Versorgungsmedizinischen Grundsätzen und zur Voraussetzung der Schwerbehinderteneigenschaft (GdB von mindestens 50) für den Erhalt des Merkzeichens B (Begleitperson).
Normenkette
SGG § 54 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 Sätze 1-2, § 85 Abs. 2 S. 1 Nr. 1; VerwRefG BW 2004 Art. 1 Abs. 4 S. 1, Art. 2 Abs. 5; SGB I §§ 12, 24 Abs. 2 S. 1; SGB IX § 2 Abs. 2, § 69 Abs. 1 Sätze 1, 6, Abs. 4, § 146 Abs. 2 S. 1; SGB X § 48 Abs. 1; VersMedV § 2; VersMedV Anl. Teil B; VersMedV Anl. Teil D Nr. 1; VersMedV Anl. Teil D Nr. 2; SchwbAwV § 3 Abs. 1 Nr. 7, Abs. 2
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 19. November 2015 und der Widerspruchsbescheid vom 10. Oktober 2013, soweit die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches “G„ versagt worden sind, teilweise aufgehoben.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Feststellungen des Grades der Behinderung (GdB) mit 80 sowie der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche “erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr„ und “Berechtigung für eine ständige Begleitung„, also für die Zuerkennung der Merkzeichen “G„ und “B„.
Die 1961 geborene Klägerin ist türkische Staatsangehörige und siedelte 1978 in die Bundesrepublik Deutschland über, wo sie sich mittlerweile aufgrund einer unbefristeten Niederlassungserlaubnis aufhält. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. In der Eigentumswohnung, welche sich im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses ohne Aufzug befindet, lebt sie mit ihrem 2006 am Guillain-Barré-Syndrom erkrankten und pflegebedürftigen Ehemann (Pflegestufe II). In ihrem Heimatland wurde sie als Schneiderin angelernt. Diese Tätigkeit übte sie fünf Jahre aus. Im Bundesgebiet war sie zunächst drei Jahre als Reinigungskraft tätig, obwohl sie nach eigenen Angaben nicht habe arbeiten dürfen. Anschließend war sie zwölf Jahre lang als Löterin beschäftigt. In der Folgezeit war sie ein Jahr arbeitslos, ein weiteres als Teilzeitkraft zu 50 % für die D. W. G. GmbH tätig, welche Betriebskantinen bewirtschaftete, und schließlich in einem Arbeitsverhältnis mit der W. Communications GmbH & Co. KG, einem Unternehmen der Empfangs- und Verteiltechnik, zuletzt als Vorarbeiterin im Produktionsprozess bei der Herstellung von Verteilern für Satellitenanlagen mit einer täglichen Arbeitszeit zwischen neun und zehn Stunden in der Normalschicht.
Bei der Klägerin war zuletzt mit bestandskräftigem Bescheid vom 3. August 2005 der GdB mit 40 seit 19. April 2005 festgestellt worden, was sich auf die Einschätzung der Versorgungsärztin Dr. Sch. von Juli 2005 stützte, wonach die Behinderung “degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Fibromyalgiesyndrom, Spinalkanalstenose, Depression, Bandscheibenschaden, Polyarthralgie„ einen Teil-GdB von 40 zur Folge habe. Die beidseitige Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen und die Allergie bedingten jeweils lediglich einen Teil-GdB von 10, weshalb ein Gesamt-GdB von 40 angemessen, aber auch ausreichend sei.
Am 10. Juli 2012 beantragte die Klägerin die Neufeststellung des GdB und die Erstfeststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens “B„, woraufhin der Beklagte medizinische Befundunterlagen beizog.
Die Fachärztin für Allgemeinmedizin M. teilte im Juli 2012 mit, eine rheumatische Erkrankung habe nicht nachgewiesen werden können. Die Klägerin leide eher an diffusen Rücken- und Schulterschmerzen. Im Bereich der Wirbelsäule liege ein Zustand nach einer Bandscheibenprotrusion vor. Funktionseinschränkungen der unteren Gliedmaße bestünden nicht. Neurologisch habe nichts Wesentliches festgestellt werden können. Des Weiteren habe eine harmlose Leberzyste vorgelegen. Ein Tinnitus sei ihr nicht bekannt.
Nach dem stationären Aufenthalt der Klägerin am 23. März 2012 und am Folgetag in der Medizinischen Klinik des Krankenhauses M. diagnostizierte der Chefarzt Dr. F. einen unspezifischen Schwindel. Die stationäre Aufnahme sei zur Schwindelabklärung erfolgt. Laborchemisch sei nichts Auffälliges gefunden worden. Am zweiten Tag sei die Klägerin nach B...