Entscheidungsstichwort (Thema)
Anerkennung von Schädigungsfolgen einer Schutzimpfung
Orientierungssatz
1. Ein Anspruch auf Versorgungsleistungen nach dem Infektionsschutzgesetz setzt nach dessen § 60 Abs. 1 S. 1 eine öffentlich empfohlene Schutzimpfung, den Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehende gesundheitliche Schädigung sowie einen Impfschaden voraus.
2. Zunächst muss ein nach der Impfung aufgehobenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden; sodann müssen diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sein.
3. Nach den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation kann es nach einer Poliomyelitisschutzimpfung bis zu drei Monate dauern, bis es zu einer postvakzinalen Enzephalitis kommt. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so ist eine aufgetretene Hirnhautentzündung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf die Impfung zurückzuführen.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozial-gerichts Neuruppin vom 19. Dezember 2009 geändert. Der Beklagte wird unter Änderung seines Bescheides vom 15. September 2006 in der Gestalt des Widerspruchs-bescheides vom 3. April 2006 verpflichtet, den Bescheid vom 9. Dezember 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Januar 1995 zu ändern und festzustellen, dass der Hirnschaden mit Störungen des Bewegungsvermögens und der geistigen Entwicklung sowie Anfallsleiden Folge der Poliomyelitisschutzimpfung der Klägerin vom 9. Januar 1989 ist.
Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die im März 1987 geborene Klägerin begehrt die Feststellung von Schädigungsfolgen einer Schutzimpfung.
Die Klägerin, die zuvor sowohl gegen Poliomyelitis als auch gegen Masern geimpft worden war, erhielt am 9. Januar 1989 eine Auffrischungsimpfung mit Lebendviren gegen Poliomyelitis und am 17. Januar 1989 eine Boosterung gegen Masern. Beide Impfungen wurden durch die Krippenärztin vorgenommen, die für die Kinderkrippe der Klägerin zuständig war.
In der Zeit vom 13. Februar 1989 bis zum 21. Februar 1989 war die Klägerin wegen einer Mittelohrentzündung erkrankt und besuchte die Kinderkrippe nicht. Am 24. Februar trat bei der Klägerin starkes Erbrechen auf, sodass sie von ihrer Mutter aus der Kinderkrippe abgeholt werden musste. Am Folgetag erfolgte die stationäre Krankenhausaufnahme. Dabei wurde eine Enzephalitis festgestellt. Als Folge dieser Enzephalitis erlitt die Klägerin einen schweren Hirnschaden, der inzwischen zur Zuerkennung eines Grad der Behinderung (GdB) von 100 nach dem Sozialgesetzbuch/ Neuntes Buch (SGB IX) geführt hat.
Am 14. November 1989 erkannte die Bezirks-Hygieneinspektion des Rates des Bezirkes Schwerin für die Klägerin einen Schaden im Sinne der Zweiten Durchführungsbestimmung zum Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen aufgrund der am 17. Januar 1989 durchgeführten Masern-Zweitimpfung an. Der Kausalzusammenhang zwischen der Impfung und der am 24. Februar 1989 beginnenden Enzephalitis und des sich daraus entwickelnden postencephalitischen apallischen Syndroms sei mit hoher Wahrscheinlichkeit gegeben. Am 9. März 1990 erstattete Obermedizinalrat Prof. Dr. Dr. O eine gutachterliche Stellungnahme, in der er - vor allem gestützt auf eine Literaturrecherche - den Kausalzusammenhang verneinte. Daraufhin hob der Rat des Bezirkes Schwerin am 14. Mai 1990 die Entscheidung vom 14. November 1989 auf. Das Gesundheitsministerium der DDR bestätigte dies am 27. Juni 1990.
Am 10. März 1992 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten eine Versorgung nach dem Bundesseuchengesetz. Mit Bescheid vom 9. Dezember 1993 lehnte der Beklagte eine solche Versorgung, bezogen auf die Masernschutzimpfung, mit der Begründung ab, der Kausalzusammenhang sei nicht wahrscheinlich. Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25. Januar 1995 - bezogen auf eine Versorgung nach beiden Impfungen - zurück. Der Widerspruchsbescheid wurde bestandskräftig.
Den am 18. Juni 2004 gestellten Überprüfungsantrag der Klägerin lehnte der Beklagte durch Bescheid vom 15. September 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. April 2006 mit der Begründung ab, der Kausalzusammenhang zwischen den Impfungen und der eingetretenen Enzephalitis sei nicht wahrscheinlich.
Die hiergegen fristgemäß erhobene Klage hat das Sozialgericht Neuruppin mit Urteil vom 19. Dezember 2009 abgewiesen: Ein Kausalzusammenhang sei weder zwischen der Poliomyelitisimpfung und der Enzephalitis noch zwischen der Masernimpfung und der Enzephalitis wahrscheinlich. Maßgebend seien die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit. Diese verlangten hinsichtlich der Masern-Boosterung ein Auftreten der Enzephalitis im Zeitraum von 7-14 Tagen nach der Impfung, im Falle der Klägerin sei jedoch ein Abstand von 53 Tagen gegeben. Hinsichtlich der Poliomyelitisimpfung sei ein ursächlicher Zusammenhang dann wahrscheinlich, we...