Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an die Rechtmäßigkeit einer Betreibensaufforderung des Gerichts als Voraussetzung des Eintritts einer Klagerücknahmefiktion
Orientierungssatz
1. Eine in materieller Hinsicht fehlerhafte Betreibensaufforderung des Sozialgerichts ist nicht geeignet, die Klagerücknahmefiktion nach § 102 Abs. 2 SGG auszulösen, weil sie den erforderlichen Wegfall des Rechtschutzinteresses nicht erfüllt (BSG Urteil vom 1. 7. 2010, B 13 R 58/09 R).
2. Die Vorschrift des § 102 Abs. 2 SGG ist als Ausnahmevorschrift eng auszulegen.
3. Erfordert die Beantwortung der vom Gericht gestellten Fragen einen erheblichen Zeitaufwand des Klägers, so kann nach fruchtlosem Ablauf der vom Gericht gesetzten unangemessenen Frist noch nicht von einem Fortfall des Sachbescheidungsinteresses des Klägers ausgegangen werden. Eine zügige Verfahrensführung durch das Gericht kann nicht dazu führen, dass jegliche Fristversäumnisse mit einer Betreibensaufforderung sanktioniert werden.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 10. Februar 2020 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird an das Sozialgericht Berlin zurückverwiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig zwischen den Beteiligten ist, ob der beim Sozialgericht Berlin unter dem Aktenzeichen S 115 U 26/19 geführte Rechtsstreit auf Grund des Eintritts einer Klagerücknahmefiktion nach § 102 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beendet worden ist.
In dem Ausgangsverfahren S 115 U 26/19 stritten die Beteiligten um die Anerkennung einer Berufskrankheit nach der Nr. 4105 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung sowie die Gewährung von Entschädigungs- und Hinterbliebenenleistungen.
Der im Jahr 1944 geborene Ehemann der Klägerin war während der Ausübung seiner beruflichen Tätigkeiten als Maschinenschlosser in den Jahren 1962 bis 1986 in der Seeschifffahrt asbesthaltigen Stäuben ausgesetzt und entsprechend exponiert. Er verstarb am 15. November 2017 an den Folgen eines metastasierten Bronchialkarzinoms.
Mit - hier nicht streitgegenständlichem - Bescheid vom 25. März 2017 hatte es die Beklagte abgelehnt, bei ihm eine Berufskrankheit nach der Nr. 4104 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (Lungenkrebs in Verbindung mit Asbestose) anzuerkennen. Auf Grund des Vortrags im Rahmen des hierzu geführten Widerspruchsverfahrens, wonach ein durch Asbest verursachtes Mesotheliom vorgelegen haben könnte, leitete die Beklagte entsprechende Ermittlungen ein. Zu der Frage, ob eine Berufskrankheit nach Nr. 4104 anzuerkennen ist, wurde das gerichtliche Verfahren S 67 U 399/18 beim Sozialgericht Berlin geführt.
Mit Bescheid vom 23. August 2018 lehnte es die Beklagte ab festzustellen, dass die Erkrankung des Ehemanns der Klägerin eine Berufskrankheit nach der Nr. 4105 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung darstellt. Sie lehnte die Gewährung von Entschädigungsleistungen (Leistungen als Sonderrechtsnachfolgerin sowie Hinterbliebenenleistungen) ab. Aus den übersandten Unterlagen des Instituts für Gewebediagnostik Berlin am MVZ des H Klinikums E von B gehe zweifelsfrei hervor, dass ein Pleuramesotheliom durch die histologischen Untersuchungen des entnommenen Gewebes nicht habe nachgewiesen werden können. Auch die seit dem 07. Juni 2016 durchgeführten computertomografischen Untersuchungen hätten keine Hinweise auf das Vorliegen eines Pleuramesothelioms ergeben. Darüber hinaus habe durch die am 23. November 2017 im Institut für Pathologie der C durchgeführte Sektion das Vorliegen eines Pleuramesothelioms des Bauchfells oder des Pericards nicht nachgewiesen werden können (Sektionsbericht vom 16. Juli 2018). Eine Berufskrankheit nach Nr. 4105 der Berufskrankheiten-Liste könne somit nicht wahrscheinlich gemacht werden.
Den hiergegen gerichteten Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 17. Dezember 2018 zurück. Die Gewerbeärztin im Landesamt für Gesundheit und Soziales M, Dr. K, habe in ihrer Stellungnahme vom 03. November 2017 mitgeteilt, dass auch aus ihrer Sicht die medizinischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 4105 nicht vorlägen. Bei den pleuralen Veränderungen handele es sich nicht um ein Pleuramesotheliom, sondern um eine Pleurakarzinose (Befall des Brustfells mit Metastasen) bei Adenokarzinom (Tumor im Drüsengewebe) des linken Lungenoberlappens.
Am 14. Januar 2019 hat die Klägerin über ihren Bevollmächtigten Klage vor dem Sozialgericht (SG) Berlin erhoben, mit der sie ihr Begehren in Bezug auf die Berufskrankheit Nr. 4105 weiter verfolgt und hilfsweise die Anerkennung und Entschädigung der Berufskrankheit Nummer 4104 begehrt hat (Aktenzeichen: S 115 U 26/19).
In der Folge ist zwischen dem Vorsitzenden der 115. Kammer und dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin Schriftverkehr in Bezug auf die Zulässigkeit der Klage bzw. der Geltendmachung einzelner Streitgegenstände im Rahmen des vorliegenden Klageverfahrens und das Verhältnis zum Klageverfahren S 67...