Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. zu späte Verzögerungsrüge. Rügeerhebung nach Erhalt der Ladung und kurz vor verfahrensbeendender Annahme eines Vergleichsvorschlags. Rechtsmissbrauch. befürchtete Belastung des Prozessklimas. Auslegung einer Prozesserklärung. Ankündigung einer Verzögerungsrüge. keine instanzübergreifende Verrechnung von Vorbereitungs- und Bedenkzeiten bei Beschränkung der Entschädigungsklage auf eine Instanz. Angemessenheitsprüfung. Übersendung der Gerichtsakte an die Vorinstanz wegen Kostenfestsetzungsverfahren. kein entschädigungsloser "Zwischen-Monat" zwischen Ladung und Termin. Verfahrensverbindung. entschädigungsrechtliche Eigenständigkeit der verbundenen Verfahren
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Verzögerungsrüge erweist sich jedenfalls dann als rechtsmissbräuchlich und damit unwirksam, wenn sie erst zu einem Zeitpunkt erhoben wird, zu dem das Ausgangsgericht bereits einen Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt und den Beteiligten darüber hinaus einen Vergleichsvorschlag unterbreitet hat, der von der Gegenseite bereits angenommen worden ist und kurz darauf auch vom Kläger selbst angenommen wird.
2. Die Entscheidung des Ausgangsgerichts, auf die Anforderung eines anderen Gerichts oder eines anderen Spruchkörpers desselben Gerichts hin diesem (kurzzeitig) die angeforderten Akten zu überlassen, kann sich als sachlich gerechtfertigt darstellen (hier: Übersendung der Gerichtsakte an Vorinstanz wegen eines dort anhängigen Kostenfestsetzungsverfahrens).
3. Soweit der Senat in der Vergangenheit den Monat zwischen Ladung zum Termin und Durchführung der mündlichen Verhandlung / des Erörterungstermins noch per se als Aktivitätszeit gewertet hat (siehe etwa Senatsurteil vom 25.2.2016 - L 37 SF 128/14 EK AL = juris RdNr 52) hält er hieran nicht mehr fest (Anschluss an BSG vom 24.3.2022 - B 10 ÜG 4/21 R = BSGE 134, 32 = SozR 4-1720 § 198 Nr 21 RdNr 38).
Orientierungssatz
1. Beschränkt der Kläger seine Entschädigungsklage im Rahmen seiner Dispositionsbefugnis (§ 123 SGG) allein auf das Berufungsverfahren, besteht kein Grund, die grundsätzlich der Berufungsinstanz zustehende Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten zu verkürzen oder diese auf den nicht streitgegenständlichen Verfahrensteil (hier: überlanges Verfahren in der ersten Instanz) anzurechnen.
2. Bei objektiver Betrachtung ist nicht zu erwarten, dass sich die Erhebung einer Verzögerungsrüge nachteilig auf das "Prozessklima" auswirkt.
3. In der Ankündigung eines rechtskundig vertretenen Klägers, er werde zukünftig eine Verzögerungsrüge erheben, kann noch keine ordnungsgemäße Verzögerungsrüge gesehen werden.
4. Eine Verbindung nach § 113 Abs 1 SGG führt lediglich dazu, dass Verhandlung und Entscheidung gemeinsam erfolgen. Prozessrechtlich bleibt jedes der verbundenen Verfahren selbständig (vgl BSG vom 17.12.2020 - B 10 ÜG 1/19 R = BSGE 131, 153 = SozR 4-1720 § 198 Nr 20).
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt Entschädigung wegen überlanger Dauer des vor dem Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg unter dem Aktenzeichen L 32 AS 1088/18 geführten Berufungsverfahrens.
Dem Ausgangsverfahren lag folgender Sacherhalt zugrunde:
Am 24.11.2011 erhob der Kläger, bereits seinerzeit vertreten durch seinen jetzigen Prozessbevollmächtigten, Klage vor dem Sozialgericht (SG) F gegen das für ihn zuständige Jobcenter (JC). Mit der Klage, die beim SG zuletzt unter dem Aktenzeichen S 20 AS 2837/11 geführt wurde, begehrte der Kläger im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) unter Berücksichtigung der vollständigen Bruttowarmmiete für die von ihm angemietete Wohnung nebst Verzinsung der hieraus resultierenden Nachzahlung. Im Streit stand - mit Ausnahme einzelner Teilzeiträume - im Wesentlichen der Zeitraum von Januar 2005 bis Juli 2010. Das SG gab der Klage mit Urteil vom 16.04.2018, dem Kläger zugestellt am 03.05.2018, teilweise statt; im Übrigen wies es die Klage ab.
Am 04.06.2018 - einem Montag - legte der Kläger Berufung gegen das Urteil des SG ein. Hilfsweise erhob er Nichtzulassungsbeschwerde. Das LSG bestätigte am 20.06.2018 den Eingang der - unter dem Aktenzeichen L 32 AS 1088/18 registrierten - Berufung und forderte das JC zur schriftlichen Äußerung binnen eines Monats auf. Außerdem gab es dem Prozessbevollmächtigten des Klägers mit Schreiben vom 16.07.2018 auf, einen hinreichend konkreten Sachantrag zu stellen, und wies ihn darauf hin, dass die hilfsweise Einlegung eines Rechtsbehelfs nicht zulässig sei. Nachdem der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Nichtzulassungsbeschwerde Mitte August 2018 wieder zurückgenommen hatte, erinnerte das LSG ihn am 29.08.2018 an die Konkretisierung des Streitgegenstands. Im September 2018 gingen Schriftsätze des Prozessbevollmächtigten des Klägers (vom 19. bzw. 26.09.2019) beim LSG ein, mit denen dies...