Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Klagerücknahme gem § 102 Abs 2 SGG. Nichtbetreiben eines Verfahrens. Mitwirkungshandlung des Klägers. Nichtvorlage der Prozessvollmacht. vor dem Zeitpunkt der Akteneinsicht
Leitsatz (amtlich)
Als Nichtbetreiben eines Verfahrens kann es nicht angesehen werden, dass die Prozessbevollmächtigte einer Klägerin die vor der Gewährung von Akteneinsicht wiederholt vom Gericht angeforderte Prozessvollmacht nicht vorlegt.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hannover vom 11. Juni 2020 aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Rechtsstreit S 22 U 266/19 weiterhin vor dem Sozialgericht Hannover anhängig ist.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Frage, ob der von der Klägerin vor dem Sozialgericht (SG) Hannover betriebene Rechtsstreit durch fiktive Klagerücknahme erledigt ist.
Die Klägerin ist als Zustellerin bei der F. beschäftigt. Am 3. November 2017 befand sie sich auf dem Rückweg von der Arbeit, als ein Reifen des von ihr gelenkten Pkw platzte, sie die Kontrolle über das Fahrzeug verlor und dieses nacheinander mit der rechten und linken Leitplanke der befahrenen Autobahnabfahrt kollidierte. Der im Anschluss aufgesuchte Durchgangsarzt diagnostizierte ein Schädel-Hirn-Trauma I. Grades sowie eine Distorsion der Halswirbelsäule (HWS) und veranlasste eine stationäre Aufnahme der Klägerin zur Überwachung in der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie des G. H. (Bericht Prof. Dr. I. vom Unfalltag). Im Entlassungsbericht der Klinik (vom 8. November 2017) ist ferner eine Prellung der linken Schulter aufgeführt.
Die Beklagte erkannte das Ereignis vom 3. November 2017 als Arbeitsunfall an und stellte fest, dass das Ereignis zu einer Prellung der linken Schulter und einer Schädelprellung geführt habe, die ohne wesentliche Folgen ausgeheilt seien. Demgegenüber lehnte sie es ab, die Verschleißumformung der HWS, die Verschleißumformung des linken Schultereckgelenks mit SLAP-Läsion Grad I (Verletzung der Knorpellippe am oberen Rand der Schultereckgelenkpfanne), eine Pulley-Läsion Grad IV (Schädigung der langen Bizepssehne im Schultergelenk), einen Teilriss der Supraspinatussehne sowie einen komplexen Kniebinnenschaden rechts als Folgen des Arbeitsunfalls anzuerkennen (Bescheid vom 27. November 2018). Der hiergegen von der Klägerin eingelegte Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 21. Januar 2019).
Am 30. Januar 2019 hat die Klägerin beim SG Hannover Klage erhoben und dort geltend gemacht, dass dauerhafte Schmerzen und Funktionseinschränkungen der HWS, eine SLAP-Läsion I. Grades mit dauerhaften Bewegungseinschränkungen, eine Pulley-Läsion IV. Grades, ein Teilriss der Supraspinatussehne und ein komplexer Kniebinnenschaden rechts mit dauerhafter Funktionseinschränkung und Schmerzen des rechten Knies sowie Beeinträchtigung des Gehvermögens durch den Arbeitsunfall vom 3. November 2017 verursacht worden seien.
Die Klageschrift vom 30. Januar 2019 enthält einen Antrag auf Akteneinsicht in die Verwaltungsakten sowie Ausführungen zur Begründung der Klage. In dem ursprünglich unter dem Aktenzeichen S 22 U 21/19 geführten Verfahren hat das SG unter Bezugnahme auf das Akteneinsichtsgesuch um Übersendung einer Originalvollmacht gebeten und hierzu eine Frist von zwei Wochen gesetzt (Verfügung vom 16. Mai 2019). Mit Schreiben vom 18. Juni 2019 hat es die Prozessbevollmächtigten der Klägerin - wiederum unter Fristsetzung von zwei Wochen - erinnert und darauf hingewiesen, dass ohne Vorlage der Originalvollmacht Akteneinsicht nicht gewährt werden könne.
Zeitgleich mit dieser Klage hat die Klägerin eine weitere Klage erhoben, die das SG Hannover unter dem Aktenzeichen S 22 U 22/19 geführt hat. In jenem Verfahren hat das SG um Vorlage eines von der Klägerin auszufüllenden Fragebogens und einer Schweigepflichtentbindungserklärung gebeten (Verfügung vom 16. Mai 2019). Mit Schriftsatz vom 8. Juli 2019 haben die Prozessbevollmächtigten der Klägerin in dem Verfahren S 22 U 22/19 ua eine Vollmacht und den erbetenen Fragebogen vorgelegt.
Im Verfahren S 22 U 21/19 hat das SG Hannover mit Verfügung vom 6. August 2019 an die richterlichen Verfügungen vom 16. Mai 2019 und 18. Juni 2019 erinnert und nunmehr um Erledigung bis zum 30. August 2019 gebeten. Gleichzeitig hat das Gericht die Prozessbevollmächtigten der Klägerin aufgefordert, das Verfahren zu betreiben, verbunden mit dem Hinweis, dass die Klage nach § 102 Abs 2 S 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als zurückgenommen gelte, wenn die Klägerin das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Eine Abschrift dieser Verfügung ist den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 8. August 2019 zugestellt worden.
Am 19. November 2019 hat das SG den Rechtsstreit S 22 U 21/19 als erledigt angesehen und die Beteiligten hierüber informiert. Aufgrund der dagegen von der Klägerin eingelegten „Beschwerde“ hat das SG den Rechtsstreit unter d...