Entscheidungsstichwort (Thema)
Impfschadensrecht. Kausalitätsbeurteilung. Kannversorgung. Mehrfachimpfung. Impfstoff Hexavac. Epilepsie in Form eines West-Syndroms
Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Kausalitätsbeurteilung nach dem IfSG sind auch für die Zeit ab Inkrafttreten der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung am 1.1.2009 (juris: VersMedV) grundsätzlich die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB 9)" zu beachten, die jeweils unter den Nr 53 bis 143 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen enthalten.
Grundsätzlich ist darüber hinaus der neueste medizinische Erkenntnisstand zu berücksichtigen, und zwar auch dann, wenn der zu beurteilende Impfvorgang mehrere Jahre zurückliegt.
2. Zur Gewährung der sog Kannversorgung gem § 60 Abs 1 IfSG iVm § 61 S 2 IfSG reicht die allein theoretische Möglichkeit eines Ursachenzusammenhangs nicht aus.
3. Das West-Syndrom ist eine Erkrankung, bei der es im Hinblick auf die als schädigende Ereignisse angenommenen Impfungen durch den Impfstoff "Hexavac" bislang an einer fundierten, einen Ursachenzusammenhang bejahenden, medizinischen Lehrmeinung fehlt.
Tenor
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 11.06.2010 wird zurückgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Versorgung der Klägerin nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG).
Die am ........2002 geborene Klägerin wurde am 19.07.2002 nach der Vorsorgeuntersuchung U4, die unauffällig verlief, mit dem Impfstoff Hexavac gegen Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Haemophilus B, Hepatitis B und Poliomyelitis geimpft. Am 24.07.2002 wurde die Klägerin stationär im S... K... K... K... aufgenommen. In der Anamnese durch die Mutter ist vermerkt, dass die Klägerin vor fünf Tagen geimpft worden sei, am Abend Schreiattacken gehabt habe, die über das Wochenende angehalten hätten. Seit dem 23.07.2007 seien Krampfanfälle aufgetreten, insgesamt fünfmal. Andere Nebenerscheinungen oder Fieber wurden nicht bemerkt. Die Temperatur wurde mit 37,9 Grad gemessen. Nach Durchführung verschiedener Untersuchungen wurde die Diagnose eines West-Syndroms gestellt, da sowohl nach dem EGG-Befund mit Nachweis einer typischen Hypsarrhythmie als auch von der Art der Anfälle mit tonischen und myoklonischen Anfällen von einer BNS-Epilepsie auszugehen sei. Am 23.08.2002 erfolgte die zweite Hexavac-Impfung, nachdem zuvor als auch danach Krampfanfälle aufgetreten waren.
Im Februar 2005 beantragte die Klägerin über ihre Eltern Versorgung nach dem IfSG wegen eines Impfschadens.
Das Amt für soziale Angelegenheiten Koblenz zog die Schwerbehindertenunterlagen bei. Nach dem Schwerbehindertenrecht war bei der Klägerin mit Bescheid vom 23.11.2004 ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt worden. Sodann zog das Amt für soziale Angelegenheiten die Behandlungsunterlagen des Klinikums K... und des Sozialpädiatrischen Zentrums B...K... bei und ließ die Klägerin durch Prof. Dr. R..., Ärztlicher Direktor der Abteilung Päd. Neurologie der Universitäts-Kinderklinik H... begutachten. Dieser kam nach einer Untersuchung der Klägerin im Mai 2006 zu dem Ergebnis, aus kinderärztlicher Sicht sei seit langer Zeit die Indikation zur Durchführung der Pertussis-Impfung gegeben, auch wenn in den sechziger und siebziger Jahren über die Möglichkeit der Entwicklung einer Epilepsie in diesem Zusammenhang diskutiert worden sei. Ein Krampfanfall mit Fieber nach DPT-Impfung sei als mögliche Impfkomplikation gut bekannt und unstreitig anerkannt. Nach einer DPT-Impfung könne sich bei genetisch prädisponierten Patienten eine Epilepsie entwickeln, die durch einen Fieberkrampf ausgelöst werde. Dieser Fieberkrampf werde zum Realisationsfaktor einer nachfolgenden Epilepsie. Eine wesentliche Temperaturerhöhung im zeitlichen Zusammenhang mit der Manifestation der ersten Anfälle sei bei der Klägerin aber nicht festgestellt worden. Zudem habe sich die Epilepsie direkt als Epilepsie mit BNS-Anfällen und nicht als unspezifischer Fieberkrampf manifestiert. Zwar würden publizierte Daten dafür sprechen, dass nach DPT-Vaccinationen eine erhöhte Rate von Krampfanfällen zu beobachten seien. Allerdings gebe es natürlicherweise für jeden Säugling ein gewisses Basisrisiko, unabhängig von der Impfung, gerade zu diesem Zeitpunkt einen Krampfanfall zu erleiden bzw. eine Epilepsie mit BNS-Anfällen zu entwickeln, deren Manifestationsgipfel ja gerade um den 4. bis 6. Lebensmonat liege. Aufgrund dieses allgemeinen Hintergrundrisikos sei zu erwarten, dass 7/10.000 der Kinder innerhalb einer Woche um die Impfung herum einen ersten Krampfanfall erleiden würden. Krampfanfälle nach DPT-Vaccination seien nicht so sehr Folge der Impfung, sondern die Impfung führe dazu, dass ein Ereignis, das später eingetreten wäre, sich früher manifestiere. Dafür spreche, dass die Häufigkeit von Kra...