Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "RF" bei Inkontinenz
Orientierungssatz
1. Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" hat u. a. der mit einem GdB von 80 anerkannte Schwerbehinderte, wenn er wegen seines Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen kann.
2. Entscheidend für die Vergabe des Merkzeichens ist, dass der behinderte Mensch faktisch an das Haus gebunden ist. Das ist u. a. dann zu verneinen, wenn er noch seinen Pkw benutzen kann.
3. Im Übrigen besteht der Anspruch u. a. dann, wenn es anderen Teilnehmern öffentlicher Veranstaltungen unzumutbar ist, behinderte Menschen wegen Auswirkungen ihrer Behinderungen zu ertragen. Eine Blasenentleerungsstörung mit unkontrolliertem Harnabgang allein rechtfertigt noch keine Zuerkennung des Merkzeichens "RF". Selbst unter Abwägung der betroffenen Grundrechte des Behinderten ist es diesem zumutbar, Einmalwindeln bzw. Windelhosen zu benutzen.
4. Ist die Harn- und Stuhlinkontinenz vom Behinderten noch weitgehend beherrschbar, so besteht kein Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens. Kommt es trotzdem zu einer Geruchsbeeinträchtigung, so ist diese nach der Rechtsprechung des BSG sowohl vom Behinderten als auch von der teilnehmenden Öffentlichkeit als zumutbar hinzunehmen (Anschluss: BSG, Beschluss vom 17. August 2010, B 9 SB 32/10 und BSG, Beschluss vom 12. Februar 1997, 9 RVs 2/96).
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" - (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) bzw. ab dem 1. Januar 2013 die Ermäßigung von der Rundfunkbeitragspflicht.
Der Beklagte stellte bei dem am ... 1957 geborenen Kläger mit Bescheid vom 24. Oktober 2003 einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 sowie das Merkzeichen "G" (Erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit im Straßenverkehr) wegen einer Multiple Sklerose (MS) fest. Auf seinen Widerspruch änderte der Beklagte diesen Bescheid ab und stellte einen GdB von 60 fest mit (Bescheid vom 22. April 2004). Am 10. Februar 2005 beantragte der Kläger die Neufeststellung seiner Behinderungen und verlangte wegen einer verstärkten Einschränkung der Gehfähigkeit das Merkzeichen "aG" (Außergewöhnliche Gehbehinderung). Nach medizinischen Ermittlungen, die eine deutliche Verschlechterung der Mobilität des Klägers belegen konnten, hob der Beklagte den Bescheid vom 22. April 2004 auf und stellte ab dem 10. Februar 2005 einen GdB von 80 sowie die Merkzeichen "G", "aG" und "B" (Berechtigung für eine ständige Begleitung) fest (Bescheid vom 20. September 2005).
Am 22. September 2006 beantragte der Kläger beim Beklagten das Merkzeichen "RF" und machte geltend: Wegen der schwersten Einschränkungen in der Beweglichkeit sowie einer schwer kontrollierbaren Inkontinenz und weiterer Symptome sei eine weitere Verschlechterung eingetreten. Der Beklagte zog ein Pflegegutachten der ... Krankenversicherung bei. Danach werde die Physiotherapie und die hausärztliche Versorgung von Dr. B. jeweils in der Wohnung des Klägers durchgeführt. Der Kläger sei alleinstehend und ohne regelmäßige Betreuungsperson, so dass die Belange der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung lediglich durch Bekannte erfüllt würden, was zu einem erheblichen Pflegedefizit geführt habe. Die mögliche Gehstrecke mit Rollator sei auf ca. 100 Meter begrenzt. Der Pflegebedarf in der Grundpflege betrage 55 Minuten und in der Hauswirtschaftlichen Versorgung 45 Minuten, so dass die Voraussetzungen der Pflegestufe I gegeben seien. Der Beklagte holte einen Befundschein von der Allgemeinmedizinerin Dr. B. vom 16. November 2006 ein. Hiernach habe es beim Kläger im letzten Jahr mehrere akute Schübe gegeben, die zu einer Pflegebedürftigkeit geführt hätten. Der Kläger wolle trotz seiner Behinderung als Beamter in der Stadtverwaltung weiter arbeiten. Es bestehe eine extreme Geh- und Stehbehinderung. Dr. S. diagnostizierte in einem beigefügten Reha-Entlassungsbericht des Reha-Zentrums Bad ... über einen stationären Aufenthalt vom 9. November bis 21. Dezember 2005:
MS, akuter Schub,
Arterielle Hypertonie,
Organische affektive Störung, leichte depressive Episode.
Der Kläger sei am 25. Oktober 2005 wegen völliger Gehunfähigkeit, Spastiken und Verkrampfungen in den Zehen sowie Empfindungsstörungen der Beine und einer Blasenentleerungsstörung stationär im Klinikum B. W. aufgenommen worden. Nach erfolgloser Behandlung sei es zu einer Anschlussheilbehandlung gekommen. In einem beigefügten Brief der Klinik B. W. vom 29. Juni 2006 berichtete der Facharzt für Neurologie und Chefarzt Dr. F. über einen stationären Aufenthalt vom 2. Mai bis 12. Mai 2006. Hiernach habe der Kläger nach einem Sturz am 29. April 2006 eine subkapitale Humerusfraktur rechts erlitten. Der Wegfall der Funktion des rechten Armes nach Versorgung mit einer PSI-Schiene habe zu einer völl...