Entscheidungsstichwort (Thema)
Innerstaatliches Auslieferungsverbot nur bei unerträglich schwerer Strafe. total punishment bei Verhängung mehrerer Freiheitsstrafen in den USA
Leitsatz (amtlich)
›1. Im Auslieferungsverfahren sind abweichende Vorstellungen anderer Staaten über Sanktionen grundsätzlich hinzunehmen. Ein innerstaatliches Auslieferungsverbot nach Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 Abs. 1 GG kommt insoweit nur bei einer "unerträglich schweren Strafe" in Betracht, nicht jedoch, wenn die Strafe lediglich "als in hohem Maße hart" anzusehen ist.
2. Zur Bildung des "total punishment" in den USA bei der Verhängung mehrerer Freiheitsstrafen (multple sentences of imprisinment).‹
Gründe
I. Der am 22.04.2006 in Köln festgenommene Verfolgte befindet sich aufgrund eines Auslieferungsersuchens des Justizministeriums der Vereinigten Staaten von Amerika in Auslieferungshaft. Der Senat hat am 20.06.2006 zuletzt die Fortdauer der Auslieferungshaft angeordnet und am 07.07.2006 die Auslieferung für zulässig erklärt. Mit Schriftsatz seines Beistands vom 11.07.2006 beantragt der Verfolgte, gem. § 33 IRG erneut über die Zulässigkeit der Auslieferung zu entscheiden und diese für unzulässig zu erklären.
Das Vorbringen des Verfolgten hat den Senat veranlasst, bei der US-Botschaft in Berlin eine ergänzende Auskunft zu der dem Verfolgten im Falle einer Verurteilung drohenden Strafe sowie zu den Möglichkeiten einer vorzeitigen Entlassung auf Bewährung bzw. einer Begnadigung einzuholen.
Der Verfolgte hat zu den ihm übermittelten Auskünften der US-Botschaft vom 21.07. und 07.08.2006 Stellung genommen.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat die Zurückweisung der Anträge des Verfolgten sowie die Anordnung der Fortdauer der Auslieferungshaft beantragt.
II. 1. Die aufgrund der ergänzenden Auskünfte gem. § 33 Abs. 1 IRG vorgenommene erneute Prüfung der Zulässigkeit der Auslieferung führt zu keinem abweichenden Ergebnis. Eine andere Entscheidung ist nicht gerechtfertigt.
a) Das Vorbringen des Verfolgten, ihm drohe im Falle einer Verurteilung eine "konkrete Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als 60 Jahren ohne Möglichkeit der vorzeitigen Haftverschonung" - was auf eine faktisch lebenslange Freiheitsstrafe hinauslaufe -, trifft nach den amerikanischen Strafgesetzen und den vom Senat dazu eingeholten Erläuterungen nicht zu.
Wie der Senat in der Zulässigkeitsentscheidung unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BVerfG (zusammenfassend BVerfG in JZ 04, 141 f) bereits ausgeführt hat, gebietet das Grundgesetz ausgehend von der Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in die Völkerrechtsordnung und von der Verpflichtung zur Einhaltung völkerrechtlicher Verträge im zwischenstaatlichen Auslieferungsverkehr Strukturen und Inhalte fremder Rechtsordnungen und Rechtsanschauungen grundsätzlich zu achten. Dazu gehören auch - unter Umständen auch ganz erheblich - abweichende Vorstellungen zum Strafmaß bei Betäubungsmitteldelikten. Ein innerstaatliches Auslieferungsverbot nach Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 Abs. 1 GG kommt insoweit nur bei einer "unerträglich schweren Strafe" in Betracht, nicht jedoch, wenn die Strafe lediglich "als in hohem Maße hart" anzusehen ist.
Die unabdingbaren Grundsätze der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung werden durch die Auslieferung wegen der dem Verfolgten drohenden Bestrafung noch nicht verletzt.
b) Ausgangspunkt der nach den angeführten Maßstäben vorzunehmenden Prüfung ist, dass der Verfolgte von vorneherein nur mit einer zeitigen Freiheitsstrafe rechnen muss, die auch nicht faktisch einer lebenslangen Freiheitsstrafe gleichkommt.
Die Höchststrafe für die dem Verfolgten vorgeworfenen Taten beträgt - für jeden Fall - 20 Jahre, wie der Senat in der Zulässigkeitsentscheidung näher ausgeführt hat. Kommt es in mehreren oder allen Anklagepunkten zur Verurteilung des Verfolgten, sieht US-Code § 3584 (a) Satz 2 für diesen Fall ("Multiple sentences of imprisonment") vor, dass die Strafen gleichzeitig ("concurrently") vollstreckt werden.
Aus den Strafen wird nach Maßgabe der "US Sentencing Guidelines" ein "total punishment (combined length of of the sentences)" gebildet, das die Höchststrafe für den einzelnen Anklagepunkt überschreiten kann.
c) Die Höhe des "total punishment", das der Verfolgte zu erwarten hat, liegt nach der Auskunft der US-Botschaft vom 07.08.2006 bei naturgemäß nicht sicherer, aber als realistisch bezeichneter Einschätzung bei 30 Jahren, wenn der Verfolgte in allen Anklagepunkten verurteilt wird. Falls der Verfolgte ein Geständnis ablegt und Reue bezüglich seiner Flucht zeigt, kann er nach den dem Senat gegebenen Erläuterungen mit einer Strafe zwischen 292 (= 24 Jahre und 4 Monate) und 324 Monaten (= 27 Jahre) rechnen. Diese Einschätzung kann entgegen der Auffassung des Verfolgten nicht als "parteiisch" angesehen werden. Sie berücksichtigt nämlich, dass der Verfolgte mit einer Strafe von nicht mehr als 20 Jahren oder gar weniger hätte rechnen können, wenn er sich dem Verfahren in den Vereinigten Staaten gestellt und sich schuldig be...