Prof. Dr. Michael Stürner
I. Regelungsgehalt von I.
Rn 4
I statuiert lediglich, dass dem Verbraucher bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen sowie Fernabsatzverträgen ein Widerrufsrecht zusteht. Weitere Voraussetzungen enthält I nicht. Diese sind in §§ 355, 356 geregelt. Regelungen zu den Rechtsfolgen der Ausübung des Widerrufsrechts sind in § 357 enthalten. Bei einem Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen, der für den Verbraucher anfangs einen kostenlosen Zeitraum vorsieht, dem sich – falls der Verbraucher den Vertrag in diesem Zeitraum nicht kündigt oder widerruft – ein kostenpflichtiger Zeitraum anschließt, der sich, wenn dieser Vertrag nicht gekündigt wird, automatisch um einen bestimmten Zeitraum verlängert, steht dem Verbraucher das Widerrufsrecht nur ein einziges Mal zu. Dies gilt jedenfalls dann, sofern er beim Abschluss dieses Vertrags vom Unternehmer in klarer, verständlicher und ausdrücklicher Weise darüber informiert wurde, dass die Erbringung dieser Dienstleistung nach dem anfänglich kostenlosen Zeitraum kostenpflichtig wird (EuGH 5.10.23 – C-565/22 – Sofatutor, ECLI:EU:C:2023:735 Rz 47 ff).
II. Ausschluss des Widerrufsrechts nach II.
Rn 5
In II enthält § 312g eine umfangreiche Liste von Fallgruppen, in denen das Widerrufsrecht ausgeschlossen ist. Dafür sind sehr verschiedene Gründe maßgeblich, teilweise gehen sie auch auf die Wirkung einer Lobby zurück. Nach II dürfen die Parteien aber ›nichts anderes bestimmt‹ haben. Im Einzelnen geht es um folgende Gruppen:
Rn 6
II Nr 1 schließt das Widerrufsrecht zunächst bei Verträgen zur Lieferung von Waren aus, die nicht vorgefertigt sind und aufgrund einer individuellen Auswahl des Verbrauchers erfolgen. Weiter sind Verträge zur Lieferung von Waren ausgenommen, die auf die persönlichen Bedürfnisse des Verbrauchers zugeschnitten sind. Hintergrund ist, dass sich diese Waren anderswo nicht oder nur mit erheblichen Nachlässen absetzen lassen. Beispielhaft seien nach Maß angefertigte Vorhänge genannt (vgl BTDrs 17/12637, 56), individuelle Wintergärten (Schlesw MDR 21, 921 [OLG Schleswig 25.03.2021 - 6 U 48/20]) oder Luftbildaufnahmen, die unter Verwendung bereits vorgefertigter digitaler Bilddateien hergestellt werden (Brandbg GRUR-RR 18, 73 Rz 31 ff; aA Kobl MDR 21, 802 [KG Berlin 28.04.2021 - 28 U 4/20], da die Individualisierung bereits vor dem Kontakt mit dem Verbraucher stattgefunden habe). Überlegenswert ist, wie dies für § 312d IV Nr 1 aF von der Rspr entschieden wurde, hiervon Sachen auszunehmen, die auf Bestellung des Verbrauchers aus vorgefertigten Standardbauteilen zusammengefügt wurden, die mit verhältnismäßig geringem Aufwand ohne Beeinträchtigung ihrer Substanz- oder Funktionsfähigkeit wieder getrennt werden können (vgl BGHZ 154, 239, 242 für ein Notebook: Trennungskosten von 5 % des Warenwertes seien unerheblich; anders LG Düsseldorf CR 14, 397 für farblich individuell zusammengestelltes Sofa). Werkverträge iSd § 631 fallen regelmäßig nicht unter Nr 1, da diese keine Verträge über die Lieferung von Waren sind (BGH NJW 18, 3380 [BGH 30.08.2018 - VII ZR 243/17] Rz 19 ff). Wird ein Gebrauchtwagen anhand einer Anfrage des Verbrauchers, der bestimmte Spezifikationen bzgl des Fahrzeugs umfasst, von einem Autohändler angekauft, ist dieser nicht auf dessen persönliche Bedürfnisse zugeschnitten (Celle NJW 20, 2341; ähnl München NJW-RR 20, 1248 [BGH 28.05.2020 - I ZR 194/19] Rz 67). Kurventreppenlifte, die je nach Abmessungen individuell gefertigt werden, unterfallen der Ausnahme des II Nr 1 nicht, da ihnen Werkverträge und nicht Werklieferungsverträge zugrunde liegen (BGH GRUR 21, 1531 [BGH 20.10.2021 - I ZR 96/20] Rz 24 ff). Generell kommt es für die Anwendung von II Nr 1 bei Kaufverträgen über eine Ware, die nach den Spezifikationen des Verbrauchers herzustellen ist, nicht darauf an, ob der Unternehmer mit deren Herstellung begonnen hat oder nicht (EuGH 21.10.20, C-529/19 – Möbel Kraft, ECLI:EU:C:2020:846 Rz 24 ff).
Rn 7
II Nr 2 nennt Waren, die schnell verderben können (zB bestimmte Lebensmittel) oder deren Verfallsdatum überschritten wurde. Zu fordern wird man haben, dass das Verfallsdatum nicht willkürlich kurz festgesetzt wurde. Arzneimittel fallen nicht ohne Weiteres unter Nr 2 (KG GRUR-RR 19, 183; Naumbg NJW-RR 17, 1389 [BGH 01.06.2017 - I ZR 29/16] Rz 42 ff; Karlsr PharmR 18, 258).
Rn 8
II Nr 3, der auf Art 16 lit e VRRL zurückgeht, enthält eine Ausnahme für versiegelt gelieferte Waren, die aus Gründen des Gesundheitsschutzes oder der Hygiene nicht zur Rückgabe geeignet sind, sofern die Versiegelung nach der Lieferung entfernt wurde. Zweifelhaft ist, ob davon auch solche Waren erfasst werden, die bestimmungsgemäß eng mit dem menschlichen Körper in Berührung kommen, wie etwa Badebekleidung, Unterwäsche oder Kopfbedeckung, aber auch Kopfhörer oder Matratzen. Während dies teilweise generell bejaht wird (Hoeren/Föhlisch CR 14, 242, 246), ist diese Ausnahmevorschrift nur dann erfüllt, wenn die Verkehrsfähigkeit der Ware aus gesundheitlichen oder hygienischen Gründen mit Entfernung der Verpackung endgültig entfallen ist...